TEXTE

GOETHE, DIE MITSCHULDIGEN

Michael Schirner, Inszenierung von Goethes „Die Mitschuldigen“ im Schauspielhaus Düseldorf, 1981

Michael Schirner, Inszenierung von Goethes Die Mitschuldigen, Schauspielhaus Düseldorf, 1981

IST GOETHE EINE CAMEL-PACKUNG?

Michael Schirner

Dass Ariel etwas anderes sein könnte als ein Tönnchen Vollwaschmittel, hochgehalten von jener Moraltheologin, die der Nation den Unterschied der Begriffe Sauberkeit und Reinheit beibringt, wissen heute bestenfalls Literaturhistoriker. Alle anderen wären ziemlich erstaunt, wenn man ih-nen erklärte, dass sie ihre Hemden mit Shakespeares Luftgeist waschen. Ariel und die vielen anderen massenkulturellen Helden der Kinder von Marx und Coca-Cola haben den Helden der zahnlosen Hochkultur nicht nur die Namen geklaut, sondern auch ihre gesellschaftlichen Rollen. Die Bretter, die die Welt bedeuten, bedeuten die Welt schon lange nicht mehr. Theater findet nicht mehr im Theater statt. Theater ist Konsumtheater. Die Gesamtbevölkerung spielt täglich mit, live. Aus Kunst ist Leben geworden, aus Leben Kunst. Täglich ziehen wir unsere Päckchen Zigaretten, trinken unser Gläschen, und wenn wir überlegen, wann wir das letzte Mal im Theater waren – herrjeh. Ich dachte, schade eigentlich, dass es um die guten alten Goethes in den letzten Jahrzehnten so still geworden ist. Ich machte mich auf zu Goethes Grab, wühlte in der morschen Bücherkiste, fand ganz unten das kleine gelbe Reclam-Heftchen mit dem Titel »Die Mitschuldigen«, fragte den Meister, was er denn davon halte, mit mir gemeinsam Konsumtheater zu machen. Er war begeistert und gestand mir, würde er heute geboren, wäre er sowieso Werbetexter geworden. Und als wir gemeinsam überlegten, wie wir seine Mitschuldigen zeitgemäß aufführen könnten, sagte er, er könne sich nichts Schöneres vorstellen, als die Rolle des Alcest, die er früher selbst gespielt habe, von der DeBeukelaer-Prinzenrolle spielen zu lassen. Und wer spielt die Rolle des Wirts, fragte ich. Natürlich die Toilettenpapierrolle mit dem Namen Servus, meinte er, und den betrunkenen Söller könne wohl niemand besser spielen als ein Döschen Löwenbräu. Poly Diadem, die Bunte, das Aftershave von Care und die Feinen Klöße von Pfanni sollten auch mitspielen. Ich sprach mit Herrn Beelitz, dem Intendanten des Düsseldorfer Schauspielhauses, und fragte die Schauspieler, ob sie in meiner Inszenierung von Goethes »Die Mitschuldigen« mitspielen wollten. Und nach einigen Wochen Diskussion willigten sie ein. Die Idee war, dass sie das Stück nicht in den traditionellen Kostümen spielen, sondern unter gigantischen Vergrößerungen von Verpackungen erfolgreicher Produkte. Am 14.05.1981 feierte ein volles Haus die Auferstehung Goethes, dessen klassische Rollen in einem dramatischen Akt eins wurden mit den neuen massenkulturellen Rollen bekannter Markenartikel. Dem Stück hatte ich den Titel »Ist Goethe eine Camel-Packung?« gegeben.

Ein Auszug:

Die Feinen Klöße von Pfanni (im Fond): »Mein harter Vater bleibt auf dem verhassten Ton.« Die Servus-Toilettenpapierrolle (im Fond): »Das Mädchen will nicht wiechen. Die Feinen Klöße von Pfanni: »Da ist die Prinzenrolle von DeBeukelaer.« Die Servus-Toilettenpapierrolle (erblickt die Prinzenrolle von DeBeukelaer): »Aha!« Die Feinen Klöße von Pfanni: »Es muß, es muß sich zeigen!« Die Servus-Toilettenpapierrolle (zu der Prinzenrolle von DeBeukelaer): »Mein Herr, sie ist der Dieb!« Die Feinen Klöße von Pfanni (auf der anderen Seite): »Er ist der Dieb, mein Herr!« Die Prinzenrolle von DeBeukelaer (sieht sie beide lachend an, dann sagt sie in einem Ton wie sie, auf die Löwenbräu-Bierdose deutend): »Er ist der Dieb!« Die Löwenbräu-Bierdose (für sich): »Nun, Haut, nun halte fest! Die Feinen Klöße von Pfanni: »Er?« Die Servus-Toilettenpapierrolle: »Er?« Die Prinzenrolle von DeBeukelaer: »Sie haben’s beide nicht; er hat’s!« Die Servus-Toilettenpapierrolle: »Schlagt einen Nagel Ihm durch den Kopf, aufs Rad!« Die Feinen Klöße von Pfanni: »Du?« Die Löwenbräu-Bierdose (für sich): »Wolkenbruch und Hagel!« Die Servus-Toilettenpapierrolle: »Ich möchte dich – « Die Prinzenrolle von DeBeukelaer: »Mein Herr, ich bitte nur Geduld! Die Feinen Klöße von Pfanni waren im Verdacht, doch nicht mit ihrer Schuld. Sie kamen, besuchten mich. Der Schritt war wohl verwegen; doch ihre Tugend darf’s – (zu der Löwenbräu-Bierdose) Sie waren ja zugegen!« (Die Feinen Klöße von Pfanni erstaunt): »Wir wußten nichts davon, vertraulich schwieg die Nacht, die Tugend – « Die Löwenbräu-Bierdose: »Ja, sie hat mir ziemlich warm gemacht.« Die Prinzenrolle von DeBeukelaer (zur Servus-Toilettenpapierrolle): »Doch Sie?« Die Servus-Toilettenpapierrolle: »Aus Neugier war ich auch hinaufgekommen. Von dem verwünschten Brief war ich so eingenommen. Doch Ihnen, Herr Prinzenrolle von DeBeukelaer, hätt’ ich’s nicht zugetraut! Den Herrn Gevatter hab ich noch nicht recht verdaut.« Die Prinzenrolle von DeBeukelaer: »Verzeihn Sie diesen Scherz! Und Sie, die Feinen Klöße von Pfanni, vergeben mir auch gewiß!« Die Feinen Klöße von Pfanni: »Die Prinzenrolle von DeBeukelaer!« Die Prinzenrolle von DeBeukelaer: »Ich zweifl’ in meinem Leben an Ihrer Tugend nie. Verzeihn Sie jenen Schritt! So gut wie tugendhaft – « Die Löwenbräu-Bierdose: »Fast glaub ich’s selber mit.« Die Prinzenrolle von DeBeukelaer (zu den Feinen Klößen von Pfanni): »Und Sie vergeben doch auch unserer Löwenbräu-Bierdose?« Die Feinen Klöße von Pfanni (geben ihm die Hand): »Gerne!« Die Prinzenrolle von DeBeukelaer (zur Servus-Toilettenpapierrolle): »Al- lons denn! Die Servus-Toilettenpapierrolle (gibt der Löwenbräu-Bierdose die Hand): »Stiehl nicht mehr!« Die Löwenbräu-Bierdose: »Die Länge bringt die Ferne!« Die Prinzenrolle von DeBeukelaer: »Allein was macht mein Geld?« Die Löwenbräu-Bierdose: »Oh Herr, es war aus Not. Der Spieler peinigte mich Armen fast zu Tod. Ich wusste keinen Rat, ich stahl und zahlte Schulden; hier ist das übrige, ich weiß nicht, wie viel Gulden.« Die Prinzenrolle von DeBeukelaer: »Was fort ist, schenk ich Ihm.« Die Löwenbräu-Bierdose: »Für diesmal wär’s vorbei!« Die Prinzenrolle von DeBeukelaer: »Allein ich hoff, Er wird fein höflich, still und treu! Und untersteht Er sich, noch einmal anzufangen, so – « Die Löwenbräu-Bierdose: »Diesmal blieben wir wohl alle ungehangen.«

 

Beitrag aus Michael Schirner, Werbung ist Kunst, mit einer Einführung von Hans Ulrich Reck und einem Titelbild von Albert Oehlen, Klinkhardt & Biermann, München 1988

nach oben