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NOTHINGTOHEARNESS

Rutherford Chang, Max Dax, Michael Schirner

Katalog, Rutherford Chan, Max Dax, Nothingtohearness, Ausstellung Nothingtoseeness, Akademie der Künste Berlin, 2021

PICTURES IN OUR MINDS

Michael Schirner

Der Intermedia-Kongress 1985, die Messe der neuen Medien in Hamburg, war der Anlass. Hier wollte der STERN ein Zeichen setzen und die Kraft und Überlegenheit des gedruckten Mediums exemplarisch demonstrieren. Für die Demonstration des Printmediums galt es, ein Ausstellungskonzept zu finden, eine Form der Präsentation für die stärksten Bilder, die je in Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht wurden. Uns war klar, dass es nicht damit getan war, die bekannten journalistischen Fotos in einer Ausstellung nebeneinander zu hängen.

Wir wollten die Technik der Kommunikation von Imaginärem in der Kunst auf die Spitze treiben, wollten uns weit entfernten von Referenzen auf Außenliegendes, uns stattdessen auf das Innere des Betrachters, seine Fantasie- und Gedankenarbeit beziehen. Wir machten den Betrachter zu seinem Medium: Die Hardware ist sein Gehirn, die Software seine Imagination, auf seiner Festplatte sind alle Bilder, die in seinem Kopf gespeichert sind. Deshalb gaben wir dem Projekt den Titel Pictures in our Minds.

Die Besucher der Ausstellung Pictures in our Minds betraten eineFotoausstellung ohne Fotos. Statt der Bilder sahen sie schwarze Tafeln, auf denen in weißer Schrift die Beschreibungen bekannter Fotos zu lesen sind. Die Texte auf den Tafeln des imaginären Museums ließen die Bilder in den Köpfen der Betrachter entstehen. Hier war nur noch die Imagination des Betrachters gefordert, das Schwarze der Tafeln aufzuhellen. Das ist die Kunst der Zukunft: Das Bild muss es aushalten können, ganz in der Imagination des Betrachters zu verschwinden. Der Text und vor allem der Autor müssen dasselbe aushalten können.

Lass uns einen Blick in die Ausstellung werfen. Du siehst eine 120 x 120 cm große schwarze Tafel. Du liest den Text: The footprint of the first man on the moon.  Der Fußabdruck des ersten Menschen auf dem Mond. Du schließt die Augen. Vor deinem inneren Auge tauchen die Bilder der ersten Mondlandung auf: ein Astronaut. Die Mondoberfläche. Der Boden im Close up. Der Fußabdruck des Moonboots. Du bist Schöpfer des Bildes in deinem Kopf. Es ist dein Bild. Du bist der Fotograf. Es ist dein Fußabdruck. Du bist der erste Mensch auf dem Mond.

Du liest: Crowds on the Berlin Wall.  Du machst aus dem Bild an der Wand ein Bild in deinem Kopf. Das Bild der Menge auf der Berliner Mauer ist dein Werk. Dein Bild ist stärker als die Fotovorlage, weil es ein Teil von dir ist. Alle Bilder in deinem Kopf sind stärker, intensiver, bewegender als die Bildvorlagen in Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen, Kino, Museen etc., weil es deine Bilder sind. Dein geistiges Eigentum. Du bist der Schöpfer deiner Bilder.

Der gefolterte Gefangene Iraker mit Kapuze. Wenn du das Bild nicht gleich vor Augen hast, weil es in deinem kollektiven Gedächtnis schlummert, wecke es nicht, lass es schlummern. Du weißt, es ist auf deiner Festplatte im Ordner mit Bergen nackter, kotbeschmierter gefolterter, gefangener Iraker. Da ist es: der Kapuzenmann mit Mantel und ausgebreiteten Armen in Abu Ghraib – die Stromkabel an seinen Händen.

Marilyn Monroe auf Subway-Luftschacht. In deinem Kopf läuft ein Film ab. Du bist Regisseur- und Protagonist. Dein weißer Rock fliegt höher und höher; du hast Mühe, ihn mit den Händen zu halten. Der Filmtitel? Richtig: Das verflixte 7. Jahr.  Nur an den Namen des Herrn am linken Bildrand kannst du dich nicht mehr erinnern. Oder doch?

Das Bild des nackten vietnamesischen Kindes, das nach einem Napalm-Angriff schreiend auf der Straße von Trang Bang flieht. Dein Bild sorgte dafür, dass der Vietnamkrieg beendet wurde. Das Bild hat die Welt zu verändern. Die Trümmer des World Trade Center. Das Bild führte dazu, dass der Krieg gegen den Terrorismus begann. Das Bild vom erschossenen Bin Laden fehlt in deiner Sammlung.

Das Tolle an den Bildern im Kopf – im Gegensatz zu normalen Kunstwerken, von denen es immer mehr gibt und die immer mehr Platz wegnehmen – ist, dass bei deinen Bildern im Kopf die Kosten für Lager, Transport und Versicherung gleich null sind. Das heißt, deine Bilder sind äußerst umweltfreundliche und platzsparende Kunst. Vielleicht streckt Albert Einstein deshalb allen Sammlern von analogen Kunstwerken die Zunge raus.

Das Porträt von Che Guevara. Es ist dein Porträt. Du bist der Che Guevara der Kunst der Zukunft. Du hast die elitären, egomanischen Künstlergenies, abgesetzt und mit ihren sperrigen, verschrobenen Werken in Museen gesperrt. Du bist Sammler, Kurator, Künstler und Betrachter in einer Person. Mit dem imaginären Museum der Bilder in deinem Kopf bist du im Besitz der größten und eindrucksvollsten Sammlung, die es gibt. Und das Tolle: Alle Werke sind das Ergebnis deiner Phantasie- und Gedankenarbeit. Du bist Schöpfer der faszinierendsten Bilder der Welt. Selbst die Werke bekannter Appropriation Artists hast du appropriiert und wiederfotografiert – und das ganz ohne Fotoapparat.

In der Ausstellung Bilder im Kopf im NRW-Forum Düsseldorf 2007 wurden zwölf meiner PICTURES IN THE MIND OF CHINESE PEOPLE veröffentlicht. Im Katalog erschien mein Beitrag mit dem Ergebnis einer Umfrage unter Chinesen. Die chinesische Künstlerin Kexin Zang und ich hatten die Umfrage mit Studierenden der Central Academy of Fine Arts Beijing durchgeführt. Aus mehreren tausend Fotos und nach umfangreichen Recherchen, Gesprächen und Diskussionen wurden die zwölf wichtigsten Bilder im Kopf der Chinesen ermittelt und im Katalog beschrieben. Es sind die wichtigsten Bilder der 1.398 Milliarden Chinesen und ein wesentlicher Teil des kollektiven Gedächtnisses einer Nation. Bis auf eins sind diese Bilder völlig unbekannt, geheimnisvoll, fremd für uns. Hier die bekanntesten unbekannten Fotos der Welt:

„Die Kaiserinwitwe Ci Xi in Gewändern eines Bodhisattva Alvalokites Vara“

Das 1903 vom Prinzen Xun Ling gemachte Bild zeigt die Witwe des Kaisers Xian Feng sitzend, rechts und links von ihr zwei Frauen, im Hintergrund der gemalte Prospekt eines Bambushains, im Vordergrund Nachbildungen blühender Lotospflanzen. Zwei handbreit über dem Kopf der Kaiserinwitwe schwebt ein Schild mit ihrem Namenszug.

Es wird erzählt, Eunuchen hätten versucht, die Herrscherin von dem Fotoporträt abzuhalten und es sogar geschafft, dass Prinz Xun Ling eingesperrt wurde. Doch die Neugier von Ci Xi siegte, sie erlaubte dem Prinzen, das Bild zu machen, das nahezu jeder Chinese im Kopf hat, wenn er an Ci Xi denkt.  

„Peking-Oper-Star Mei Lang Fang und Chaplin schütteln sich die Hände“

Das Bild von 1930 zeigt die zwei Weltstars der 20er und 30er im Haus in Hollywood Hand in Hand in die Kamera lächelnd: Chaplin mit vollem schwarzen Haar und grauen Zweireiher, Mei Lang Fang im Chang Pao, dem knöchellangen Rock, mit Ma Gua, der kurzen Seidenjacke.

Als sein Manager die beiden vorstellen wollte, sagte Chaplin, er bewundere Mei Lang Fangs Schauspielkunst seit Jahren, worauf dieser erwiderte, er kenne Chaplin schon seit zehn Jahren mit Stock, Bärtchen und Melone aus seinen Filmen und sei völlig überrascht, ihn hier im grauen Anzug zu sehen. Als beide sich 1936 in Shanghai wiedersahen, bemerkte der ergraute Chaplin: „Vor zehn Jahren hatten wir beide schwarze Haare, heute nur noch Sie“, worauf Mei Lang Fang sagte: „Wahrscheinlich weil ich nur Schauspieler bin und Sie sehr viel mehr tun.“

„Dr. Norman Bethune operiert einen Schwerverletzten im 2. Chinesisch-Japanischen Krieg“

Das 1939 gemachte Bild zeigt Dr. Norman Bethune mit zwei chinesischen Sanitätern im Feldlazarett bei einer Operation über den geöffneten Körper eines Schwerverletzten gebeugt.

Der Kanadier Bethune, Pionier des Bluttransfusionsdienstes und des mobilen chirurgischen Feldlazaretts, der 1938 nach China kam, um Maos Soldaten im Chinesisch-Japanischen Krieg medizinische Hilfe zu leisten, dort oberster Truppenarzt wurde, tausende von Chinesen zu Ärzten ausbildete und abertausend Operationen an der Front durchführte, sich dabei infizierte und 1939 an einer Blutvergiftung starb, gilt noch heute in China als Held der Menschlichkeit.

„Mao proklamiert die Gründung der Volksrepublik China“

Das Bild vom 1. Oktober 1949 zeigt Mao hinter Mikrofonen am Tor des Himmlischen Friedens beim Verlesen der Erklärung zur Gründung der Volksrepublik.

Mit einem Druck auf den roten Knopf löst Mao das Hissen der chinesischen Flagge und 28 mal 54 Salutschüsse aus. (Vor 28 Jahren wurde die Chinesische Kommunistische Partei gegründet, 54 Minderheiten gab es zu der Zeit in China.)

„Mao Tse-tung schwimmt im Yang Tse-kiang.“

Das Bild vom 1. Juni 1956 zeigt Mao, nahe Wu Chang beim Überqueren des Yang Tse-Flusses.

Tausende folgten Mao ans andere Ufer, wo er sein Shui-Diao-Ge-Tou- Gedicht (Das Schwimmen) mit seinem Traum vom Drei-Schluchten-Damm vortrug. Die Überquerung des Yang-Tse-Flusses wiederholte Mao in den folgenden zehn Jahren sechs Mal.

„Liu, Shao Qi ehrt Chuan Xiang für das Leeren der Toiletten Pekings“

Das Bild vom 26. Oktober 1958 zeigt Präsident Liu, der dem zum nationalen Helden der Arbeit gewählten Shi die Hand schüttelt.

Bei der Ehrung soll der Präsident Shi gesagt haben: „Meine Aufgabe ist es, dem Volk zu dienen. Deine Aufgabe ist dieselbe. Der Unterschied liegt in der Arbeit.“ Während der Kulturrevolution wurde der Präsident verhaftet, ebenso der von ihm geehrte Held der Arbeit.

„Der Soldat Lei, Feng“  Das Bild zeigt Lei, Feng mit Pelzmütze und Kampfanzug, eine Maschinenpistole haltend.

Der am 15. August 1962 bei einem Unfall ums Leben gekommene 22-jährige Soldat der chinesischen Volksbefreiungsarmee wurde in den Wirren der Kulturrevolution (1966-1976) im Nachhinein von Mao als Held der Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft ausgezeichnet.

Danach tauchten Fotos auf, die zeigen, wie er arbeitet, mit Kindern spielt, sein Geld verschenkt und Maos Werke studiert; seine Tagebücher wurden publiziert und machten seinen Opfermut bekannt: „Es sind die Menschen und die Regierung, die mir ein zweites Leben gegeben haben. Ich will mein endliches Leben für das unendliche Leben des Volkes geben.“ Seit jenen Tagen wurde „Lei, Feng“ in China zum Synonym für „den-Anderen- dienen“.

„Der 5 Kilometer lange Abschied von Zhou, En Lai“

Das Bild von 1976 zeigt den Platz des Himmlischen Friedens, im Vordergrund ein weißer, bekränzter Bus, dem eine Eskorte folgt, im Hintergrund ein langer Zug von Trauernden.

Zhou, En Lai, am 5. März 1898 geboren, war wichtiger Führer der Kommunistischen Partei Chinas und von 1949 an Premierminister der Volksrepublik, bis er am 8. Januar 1976 – einige Monate vor Mao – starb. Im April 1976 wurden Trauermärsche für Zhou von der „Viererbande“ (Maos Frau u.a.) gewaltsam aufgelöst.

„Deng, Xiao Ping, einen Tag nach seinem Rückzug aus der Politik, zeitunglesend“

Das Bild von 1990 zeigt Deng im Wohnzimmersessel zurückgelehnt mit hochgehaltener Zeitung und ausgestreckten Beinen. Neben ihm seine Frau, die dem Enkel auf ihrem Schoß ein Blatt Papier vorhält und ihm daraus vorliest. Nach dem offiziellen Rückzug aus der Politik blieb Deng, unterstützt von seiner Familie, vor allem seinem Sohn Deng, Pu Pang, beratend für die Regierung und seinen Nachfolger Jiang, Ze Min tätig. Im Mai 1990 reiste der ehemalige Bundeskanzler und Herausgeber der ZEIT, Helmut Schmidt, nach Peking und traf Deng, Xiao Ping.

„Die Schülerin mit den großen Augen“

Das Bild von 1991 zeigt eine achtjährige Schülerin, die einen Bleistift in der Hand hält und mit großen Augen in die Kamera blickt.

Der Fotojournalist Xie, Hai Long hat das Mädchen Su, Ming Juan an ihrem ersten Schultag in einem Dorf der An-Hui-Provinz fotografiert. Das Foto, in allen Zeitungen Chinas veröffentlicht, wurde zur Ikone für das „Hoffungsprojekt“, der Spendenaktion für die Ausbildung armer Kinder. 1998 wurde Su Ersatzmitglied des Zentralkomitees der Partei und 2002 Mitglied des Komitees der Kommunistischen Jugend-Liga.

„Der erste Taikonaut nach seiner Rückkehr aus dem All“

Das Bild vom 16.10.2003 zeigt den 38-jährigen Yang, Li Wei in weißem Raumanzug mit erhobener Hand grüßend, umgeben von einem Team in roten Overalls.

Den 21 Stunden dauernden Flug kommentierte der erste Taikonaut: „Aus dem Weltraum sieht die Erde wunderschön aus, doch die Chinesische Mauer habe ich nicht gesehen.“ Da man in China das nationale Symbol des Landes für das einzige Bauwerk hält, das aus dem All zu sehen ist, sorgte sein Kommentar für Diskussion. Einige vermuten, Yang hätte wegen schlechten Wetters den Stolz der Chinesen übersehen.

„Chinas Mongolei-Kuhjoghurt-Supergirl 2005 mit Panda“

Das Bild vom 20. Januar 2006 zeigt das Supergirl Li, Yu Chun, das neben einem vergitterten Container mit Panda hockt.

Li, Yu Chun, 21, die von 400 Millionen TV-Zuschauern zum Supergirl 2005 (dem chinesischen Deutschland sucht den Superstar) gewählt wurde, ist eine Studentin, die wie ein Mann singt, sich wie Mick Jagger anzieht und für mongolischen Kuh-Joghurt wirbt. Anlässlich einer Werbeveranstaltung des Kaufhauses „Panda“ in Cheng Du adoptierte sie einen jungen Panda, der aus Wo Long eingeflogen, auf der Bühne mit ihr präsentiert wurde und vom Lärm des Publikums und den Blitzlichtern der Fotografen verschreckt, in Ohnmacht fiel, was Tierschützer aufbrachte und die Regierung veranlasste, die Wahl des Supergirls in Zukunft zu untersagen.

Die Fotoausstellung ohne Fotos bricht ohnehin mit der Erwartung von Ausstellungsbesuchern. Mit den PICTURES IN OUR MINDS im NRW Forum Düsseldorf 2007 breche ich die Erwartung noch einmal, indem ich mich mit meinen Bildern für die Menschenrechte der Tiere einsetze und in im Bildtext ein Wort ersetze z.B.:

“The head of the South Vietnamese police shooting a panda.”

“The footprint of the first panda on the moon.”

“Genetically manipulated panda with an ear growing on his back.”

“Michael Jackson holding a panda baby out of the window of the Adlon Hotel.”

Noch ein beispielhafter Bruch: Zum 30jährige Jubiläum von BILDER IM KOPF, der Fotoausstellung ohne Fotos, lässt Chefredakteur und Herausgeber Kai Diekmann die BILD-Zeitung vom 8. September 2015 ohne Bilder drucken.

Auf der Titelseite: „Warum BILD heute keine Bilder druckt!“ darunter der Beitrag: „Heute halten Sie eine besondere BILD-Ausgabe in Ihren Händen. Eine Ausgabe, die uns besonders wichtig ist. Eine Ausgabe ganz ohne redaktionelle Fotos. Dort, wo sonst starke, aussagekräftige Bilder stehen, sind graue Flächen. In der Zeitung und in unseren digitalen Kanälen verzichten wir auf Bilder. Wir wollen damit zeigen, wie wichtig Fotos im Journalismus sind … Denken Sie an das Schwarz-Weiß-Foto eines vietnamesischen Mädchens. Es rennt schreiend auf den Fotografen zu. Im Hintergrund US-Soldaten und eine bedrohlich schwarze Wolke. Bis heute prägt dieses Foto unsere Abscheu vor Krieg mehr als jede Politiker-Rede, mehr als jedes geschriebene Wort. Auch das Foto des ertrunkenen Aylan (3) am Strand ging um die Welt. Es sorgte für Bestürzung und Mitgefühl, rüttelte Millionen Menschen wach. Darum steht BILD für die Veröffentlichung umstrittener Fotos ein …“

Auf Seite 8: „BILDER IM KOPF – 30. Jubiläum der Fotoausstellung ohne Fotos!“ darunter der Beitrag: „Gibt es Bilder, die so stark und unvergesslich sind, dass sie auch ohne ein Foto in den Köpfen der Betrachter entstehen? Ja, sagt Prof. Michael Schirner (74), der Künstler und Kommunikationsdesigner hat vor 30 Jahren in den Hamburger Messehallen die Ausstellung BILDER IM KOPF initiiert. Seine mutige Idee: eine Fotoausstellung ohne Fotos! Statt der Bilder sahen die Besucher 1985 nur schwarze Tafeln, auf denen in weißer Farbe die Beschreibung der Fotos stand. Schirners Idee: Das Gehirn des Menschen ist wie Hardware eines Computers, auf dessen Festplatte alle Bilder gespeichert sind. Diese Fotos werden dann durch die Vorstellung abgerufen. So steht zum Beispiel auf einer Tafel: „Albert Einstein streckt die Zunge raus.“ Ein anderes Bild: „DDR-Soldat flüchtet über Stacheldraht beim Bau der Berliner Mauer.“ Sofort entstehen die Bilder im Kopf.“

Am nächsten Tag erschien BILD mit einer Beilage: „BILD ohne Bilder – Was Sie gestern verpasst haben!“ der Beitrag: „Heute zeigen wir Ihnen alle zwölf Seiten mit Fotos, die Sie gestern nicht sehen konnten. Und wir dokumentieren die wichtige Debatte, die unsere Aktion bewirkt hat …“

In der Ausstellung BILDER IM KOPF im Düsseldorfer NRW Forum wurden zehn Hörbilder vorgestellt. Zehn Audioplayer hingen an den Wänden des Forums. Über Kopfhörer konnten Besucher Beschreibung von zehn Bildern hören. Dem Katalog lag eine Audio-CD bei. An zehn Tagen strahlte der WDR 5 die Hörbilder aus. Hier ein Ausschnitt:

„Spanischer Loyalist, 1936 fotografiert von Robert Capa“

Text von Hans-Michael Koetzle: „Soldaten sterben nicht. Soldaten fallen. Dieser fällt buchstäblich. Aber stirbt er auch? Hat ihn die Kugel getroffen? Oder wirft er sich im Dienst linker Propaganda rückw.rts ins Gras? Sicher ist: Robert Capas Bild eines stürzenden spanischen Milizionärs zählt zu den berühmtesten Fotografien des 20. Jahrhunderts. Es ist nicht das erste Kriegsfoto der Geschichte. Aber womöglich „das erste überzeugende Actionbild mitten aus dem Kriegsgeschehen heraus“, wie Carol Squiers formuliert. Richard Whelan spricht von der „erregendsten unmittelbarsten Momentaufnahme des Krieges“, die je gelungen sei. Russel Miller bezeichnet die Aufnahme als das „beste Kriegsfoto aller Zeiten.“ … Fakt ist: Von 70.000 Aufnahmen, die der 1913 in Ungarn geborene Robert Capa gemacht hat, ist dies die weltweit bekannteste. Und die umstrittenste zugleich. Bis heute halten sich Gerüchte, das Bild sei inszeniert. Im Bildjournalismus sind Strategien der Inszenierung entschieden tabu. Wer Fotos stellt, riskiert seine Glaubwürdigkeit als Zeuge der Zeitgeschichte. Mehr noch: Er riskiert die Glaubwürdigkeit seines kompletten OEuvres.“

Weitere Hörbilder:

Migrant Mother, Nipomo, California, 1936, fotografiert von Dorothea Lange V.J. Day, 15. August 1945, fotografiert von Alfred Eisenstedt Marilyn Monroe auf Lüftungsschacht, 1954, fotografiert von Sam Shaw James Dean am Times Square, 1955, fotografiert von Dennis Stock Flucht aus Ost-Berlin, 15. August 1961, fotografiert von Peter Leibing Willy Brandt in Warschau, 1970, fotografiert von Sven Simon Das Mädchen von Vietnam, 1972, fotografiert von Nick Ut Hanns Martin Schleyer, Gefangener der RAF, 6. September 1977, aufgenommen von einem Mitglied der RAF 11. September 2001, 2001, anonym

Es gibt nur ein einziges Unikat in der Serie PICTURES IN OUR MINDS: Judas! I don’t believe you. You are a liar!  Es ist Teil unserer Installation BLACK ALBUM / WHITE CUBE in der Ausstellung der Akademie der Künste. Max Dax ist der stolze Besitzer. Ansonsten ist jede Arbeit der Serie Teil einer Edition. Ziel ist, über die Medien möglichst viele Menschen mit den Werken zu erreichen. Deshalb werden die Arbeiten in audiovisuellen Medien publiziert. BILD ohne Bilder ist ein schönes Beispiel. Ebenso die Serie im WDR-Hörfunk. Dass Werbung Kunst ist und Kunst Werbung, zeigt das Scotiabank Contact Photography Festival Toronto, das größte Fotografie-Event der Welt mit 15 PICTURES IN OUR MINDS auf vier Billboards und elf City Light Posters, einer Installation im öffentlichen Raum: Billboards at Front St W at Spadina Ave, and across Canada: „Michael Jackson holding a baby out of the window of the Adlon Hotel“, „Osama Bin-Laden watching himself on television“, „Passengers of US Airways flight await rescue on the Hudson River“ , „Mortally wounded member of Loyalist troops in the Spanish Civil War“, „Crowds on the Berlin Wall“ , „Tortured Iraqi prisoner with hood“ , „Portrait of Che Guevara“ etc. Kunst für mehrere Millionen Menschen.

1999 hatte ich mit PICTURES IN OUR MINDS einen Andachtsraum geschaffen. Das war auf der Ausstellung HEAVEN An Exhibition That Will Break Your Heart in der Kunsthalle Düsseldorf. HEAVEN war eine Ausstellung über religiöse Erfahrung und ihre Verwandlung in den Künsten und der Populärkultur. Für HEAVEN entwickelte ich die audiovisuelle Installation SALVATION. Auf Türen von Damen- und Herren-Toilette wurde vertikal SALVATION plakatiert, der Raum der Toiletten in Schwarzlicht getaucht und beschallt mit gepredigten Werbeslogans: „Auf diese Steine können Sie bauen“, „Quadratisch, praktisch, gut“, „Wir machen den Weg frei“, „Aus dieser Quelle trinkt die Welt“, „Bitte ein Bit“, „Für das Beste im Mann“, „Aus Erfahrung gut“, „Hell wie der lichte Tag“, „Ich war eine Dose“, „Ihr guter Stern auf allen Straßen“, „Nie war er so wertvoll wie heute“, „Just do it“ etc.

2021 haben Max Dax und ich einen weiteren Andachtsraum geschaffen: Die Ausstellung NOTHINGTOSEENESS zeigt unsere Installation Black Album / White Cube mit Black Album von Prince und PICTURES IN OUR MINDS: Judas! I don’t believe you. You are a liar! gegenüber der Installation WE BUY WHITE ALBUMS von Rutherford Changals, zwei Klanginstallationen ohne Klang: NOTHINGTOHEARNESS.

Michael Schirners Beitrag ist ein bearbeiteter Auszug aus dem Katalogbuchs Nothingtohearness zur Ausstellung Nothingtoseeness in der Akademie der Künste Berlin, 2021

 

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