TEXTE

GESPRÄCH

Markus Peichel fragt Michael Schirner

Schirner Zang Foundation

Schirner Zang Foundation

BILDER ÜBER BILDER

Markus Peichel im Gespräch mit Michael Schirner in der Bibliothek der Schirner Zang Foundation. Auf dem Tisch Bücher, Kataloge, Zeitungen und Unterlagen, aus denen Schirner ab und zu zitiert. Schließlich geht es um Themen wie Autoren- und Urheberschaft, Plagiate und Zitate, Verschwinden und Tod.

Bist du abergläubisch?

Nein.

Überhaupt nicht?

Doch.

Ich frage deswegen, weil der Titel BYE BYE ja auch als Omen verstanden werden könnte – für Abschied.

Du hast recht, meine Bilder handeln von Abschied, Verschwinden und Tod.

Hast du keine Angst, dass der Titel auch die Verabschiedung von Michael Schirner bedeuten könnte, dass danach einfach nichts mehr kommt?

In meinen Arbeiten habe ich mich seit jeher von der Rolle des Künstlers als Autor, Subjekt und Individuum verabschiedet. Ich habe den Tod auch schon einmal durchgespielt. Das war am 16.5.1978 in New York; ich wollte meinen Geburtstag mit meinem Todestag zusammengelegen und hab überlegt: Ich wünsche mir zum Geburtstag eine Beerdigung. Ich lass mich lebendig zu Grabe tragen. Morgens wollte ich von zwei Bestattungsmännern sanft aus dem Bett in einen Sarg gehoben werden, wollte die Treppe des Hauses in der Thompson Street runtergetragen und in den schwarzen Chevrolet geschoben werden. Ich wollte mit geschlossenen Augen reglos daliegen, die Blicke meiner Freunde auf mich gerichtet wissen, bis die schwarze Hecktür hinter mir geschlossen würde. Ich wollte in die Bleecker Street gefahren werden, die 6th Avenue hoch, gefolgt von dreißig Taxis mit Trauergästen, bis zum Friedhof, wo ich ausgeladen werde, aufgebahrt, runtergelassen ins Grab, niedergefahren zur Hölle, im selben Moment wieder auferstehe von den Toten und mich freue, meinen Tod selbst erlebt zu haben.

Warum wolltest du das?

Weil dann ein für allemal klar ist, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, und weil ich Euch dann erzählen könnte, wie das Leben nach dem Tod ist, dass es da zum Beispiel verbeulte Taxis gibt, und Straßen mit Schlaglöchern, in denen Leichenwagen verschwinden und so weiter. Ich würde gern die Kolumne „Nachrichten aus dem Leben nach dem Tod“ schreiben und berichten, wie das Wetter dort ist, und die Luftfeuchtigkeit, und was ich den Tag über tue.

Die Beerdigung hat dann aber nicht stattgefunden?

Aus Zeitgründen. Ich hätte erst zehn Tage nach meinem Geburtstag sterben können. Die Todesanzeige auf der Titelseite der New York Times vom 17. Mai 1978 „R.I.P. Michael Schirner. GGK will never forget. Don’t worry, we cancelled your reservation at Windows on the World erschien nicht. Die Times traute uns und sich nicht. Das Essen auf dem World Trade Center Windows on the World fand auch nicht statt. Es gab dort keinen Tisch, der so groß gewesen wäre, dass alle Hinterbliebenen daran Platz gehabt hätten.

Aber deinen Traum von einer „schönen Leich“, wie wir in Österreich eine gelungene, herzerfrischende Beerdigung nennen, kannst du immer noch sehr empathisch schildern.

Ja, ich kann das so gut schildern, weil ich diese Geschichte in meinem Buch Werbung ist Kunst beschrieben habe und mich deshalb noch ziemlich genau an einzelne Details erinnere, sogar an eins der wenigen Goethe-Gedichte, das Teil dieses Textes ist. Es heißt „Die Glocke“, hat aber nichts zu tun mit der „Glocke“ von Schiller. Vielleicht kriege ich es noch zusammen:

Es war ein Kind, das wollte nie

Zur Kirche sich bequemen,

Und sonntags fand es stets ein Wie,

Den Weg ins Feld zu nehmen.

Die Mutter sprach: „Die Glocke tönt,

Und so ist dir’s befohlen,

Und hast du dich nicht hingewöhnt,

Sie kommt und wird dich holen.“

Das Kind, es denkt: „Die Glocke hängt

Da droben auf dem Stuhle.“

Schon hat’s den Weg ins Feld gelenkt,

Als lief es aus der Schule.

Und so weiter. Eben genau dieser Weg des Kindes, der fiel mir ein bei dem Gedanken, mich mit dem Leichenwagen auf den Friedhof zu begeben, als liefe ich aus der Schule.

Was ist bei dir die Triebfeder für solche Charaden? Ist es die Lust an der Provokation? Ist es die Lust am Faken und Fälschen? Ist es die Lust, sich über andere lustig zu machen? Ist es die Lust, sich einer Realität zu entziehen, die es ohnehin nicht mehr gibt?

Von allem etwas. Ich hatte zum Beispiel Lust, Theater zu machen. Ich machte mich auf zu Goethes Grab, wühlte in seiner morschen Kiste, fand ganz unten das kleine gelbe Reclam-Heft mit dem Titel Die Mitschuldigen fragte den Meister, was er davon halte, mit mir gemeinsam Konsumtheater zu machen. Er war begeistert und gestand mir, würde er heute noch leben, wäre er sowieso Werbetexter geworden. Und als wir gemeinsam überlegten, wie wir seine Mitschuldigen zeitgemäß aufführen könnten, sagte er, er könne sich nichts Schöneres vorstellen, als die Rolle des Alcest, den er früher selbst gespielt hätte, von der DeBeukelear-Prinzenrolle spielen zu lassen. Und wer spielt den Wirt, fragte ich. Natürlich die Toilettenpapierrolle mit dem Namen Servus, meinte er, und den betrunkenen Söller könne wohl niemand besser spielen als ein Döschen Löwenbräu. Poly Diadem, die Bunte, das Aftershave von Care und die Feinen Klöße von Pfanni sollten auch mitspielen. Über die Realisierung sprach ich dann mit Herrn Belitz, dem Intendanten des Düsseldorfer Schauspielhauses und den Schauspielern und erklärte, wie ich Die Mitschuldigen neu inszenieren würde. Nach einigem Überlegen fanden sie es gut. Meine Idee war es, das Stück nicht in den traditionellen Kostümen aufführen zu lassen, sondern unter Vergrößerungen von Produktverpackungen. So feierte Goethe am 14. Mai 1981 vor einem vollen Haus seine Auferstehung.

Das klingt so grauenhaft, dass sogar ich verstehen kann, warum viele Menschen die 80er Jahre für das peinlichste Jahrzehnt aller Zeiten halten.

Ich les’ ein bisschen aus dem Skript:

Die Feinen Klöße von Pfanni (im Fond): Mein harter Vater bleibtauf dem verhassten Ton.

Die Servus-Toilettenpapierrolle (im Fond): Das Mädchen will nicht weichen. Aha!

Die Feinen Klöße von Pfanni: Da ist die Prinzenrolle von De Beukelaer. Es muss, es muss sich zeigen.

Die Servus-Toilettenpapierrolle (zu der Prinzenrolle von De Beukelaer): Mein Herr, sie ist der Dieb!

Die Feinen Klöße von Pfanni (auf der andren Seite): Er ist der Dieb, mein Herr!

Die Prinzenrolle von DeBeukelaer (sieht die beiden lachend an, dann sagt sie in einem Tone wie sie, auf die Löwenbräu-Bierdose deutend): Er ist der Dieb!

Das reicht mit dem Vorspiel auf dem Theater. Lass uns bitte über BYE BYE sprechen. Du verwendest für die BYE BYE Serie Fotos, die sich ins kollektive Gedächtnis eingeprägt haben. Durch ihre fortgesetzte, millionenfache Verbreitung, ihre ständige, ununterbrochene Veröffentlichung, ihre bedingungslose, unausweichliche Verfügbarkeit haben sie aber auch irgendwann an Intensität und Magie verloren. Zum Beispiel das Bild von Willy Brandts Kniefall in Warschau. Oder das Foto des chinesischen Demonstranten, der sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens einem Panzer in den Weg stellt. Oder die Aufnahme des vietnamesischen Mädchens, das nach einem Napalm-Angriff die Straße entlangläuft und von Fotografen umringt ist. Alle diese Bilder sind in unseren Köpfen, aber sie berühren den Betrachter nicht mehr so richtig. Du entfernst aus den Fotos die wesentlichen Elemente, und plötzlich wirken sie wieder verstörend und erzeugen eine suggestive Wirkung. Geht es dir darum, den Bildern wieder zu ihrem Recht zu verhelfen? Willst du dem Betrachter vor Augen führen, dass wir vor lauter Schauen nichts mehr sehen?

Ich will Unsichtbares sichtbar machen. Das geht gut, indem ich zuerst Sichtbares unsichtbar mache. Und zwar so: Ich reduziere die Elemente des Bildes auf ein Minimum, lasse alles weg, was man weglassen kann. Die Folge: Der Betrachter imaginiert das Reduzierte. Das heißt, was nicht gezeigt wird, entsteht in den Köpfen der Betrachter. Und je imaginärer etwas ist, desto intensiver ist die Imagination. Ich setze auf die Phantasie und Gedankenarbeit des Betrachters und mache ihn zum eigentlichen Autor des Werkes. Der Betrachter ist wichtiger als der Künstler, der Zuschauer wichtiger als der Schauspieler und der Hörer wichtiger als der Musiker.

Das heißt: Ohne die mediale Verbreitung der Fotos würde deine Arbeit nicht funktionieren, gleichzeitig entsteht aber bei oberflächlicher Betrachtung der Eindruck, sie wendet sich auch gegen den Effekt dieser medialen Verbreitung. Kann man in der mannigfachen Verbreitung einzelner Bilder deren Wert und Bedeutung nur noch fühlen, wenn man etwas daraus entfernt, wenn man sie reduziert, wenn man ihren Kern durch Verschwindenlassen in eine Ahnung umwandelt?

Unsere Umwelt kann man als die Summe aller Zufügungen begreifen. Wir empfinden sie deshalb oft als angefüllt, vollgepackt und zugestellt. Die Realität in den Medien wird als Umwelt minus etwas oder etwas, das von der Umwelt abgezogen ist, wahrgenommen. Seit dem Krieg, in dem die Umwelt durch Wegnehmen gestaltet wurde, haben wir unsere Städte durch Zufügungen so angefüllt, dass wir kaum noch Platz darin haben. In dieser Welt fällt nur noch das Gegenteil auf: das Weggenommene. Statt „wegnehmen“ können wir auch „reduzieren“ sagen. Reduktion ist das Prinzip guter Gestaltung in Kunst, Design und Medien.

Klar, das Prinzip der Reduktion gilt in der Kunst schon immer bzw. immer wieder. Was mich in deinem Fall aber besonders interessiert: Du wendest es stets in direkter Auseinandersetzung mit Medien-, Alltags- und Populärkultur an. Mit den Mechanismen von Bilderflut, Scheinrealität und Simulation. Bei dir kommt immer der Aspekt massenmedialer Wirkung ins Spiel. Du hast zum Beispiel in den 70er und 80er Jahren für Jägermeister eine Kampagne mit unzähligen Motiven gemacht, die jeder Deutsche kannte. Am Schluss hast du dann sukzessive alle Elemente aus der Kampagne eliminiert. Erst war es das Jägermeister-Glas, dann waren es die Sprüche, dann die Figur. Das, was du an Überfluss von Wahrnehmung erzeugt hast, hast du dann nur noch verstärken können, indem du etwas entfernt hast.

Die Jägermeister-Kampagne, die ich mir zwar nicht, wie oft behauptet wird, ausgedacht habe, aber an der ich zehn Jahre mitgewirkt habe – weil wir alle sowieso immer nur mitwirken – hatte das stolze Ziel, alle Deutschen in der Werbung auftreten zu lassen, damit sie für ein paar Minuten berühmt werden. Die Mittel dafür sind einfach, ja banal: Pro Anzeige wird ein Mensch gezeigt, der Jägermeister trinkt und irgendeine Begründung dafür abgibt, die witzig ist, schließlich ist es ja Schnapswerbung. Auf jeder der über 3.000 Anzeigen ist ein Spruch, der anfängt mit „Ich trinke Jägermeister, weil …“. Eine Ausnahme: der Jägermeister-Trinker mit dem Spruch „Ich auch.“ Auf jeder Anzeige ist ein Jägermeister-Trinker. Eine Ausnahme: die Anzeige, auf der nur Flasche und Glas zu sehen sind, aber kein Trinker. Der Spruch: „Ich trinke Jägermeister, weil Rita sagt, ich sei Luft für sie.“ Auf jeder Anzeige sind das Produkt und der Spruch. Eine Ausnahme: die Anzeige ohne Produkt und ohne Text, auf der einer abgebildet ist, der aussieht wie der junge Westernhagen, der die Jägermeister-Geste macht. Ein Beispiel fürs Weglassen ist unser Film mit einem Wort: schreIBMaschinen.

Also jeder Kreative und jeder Künstler läuft im Endeffekt Sturm gegen sich selbst, gegen die Überflutung, die er mit seinen Motiven und Bildern miterzeugt. Irgendwann werden sie nicht mehr wahrgenommen, weil die Öffentlichkeit der Images überdrüssig ist. Sie werden dann nur durch einen totalen Paradigmenwechsel … durch Leere, Verschwinden, Unsichtbares und den Tod … wieder sichtbar, präsent und prominent. Du hast das Prinzip der Reduktion schon sehr früh in deine Arbeiten einfließen lassen. Geschah das bewusst oder aus einem Instinkt heraus?

Eher aus Faulheit. Ich will möglichst wenig tun, am liebsten gar nichts. Oder andere machen lassen – Assistenten oder das Publikum.

Das ist aber sehr kokett. Reduktion und Verdichtung bedeuten größte Anstrengung, hat Lawrence Weiner einmal gesagt. Der muss es wissen. Als Großmeister der Minimal Art.

Reduktion ist nicht nur für Minimal Art, sondern für jede Kunst gut.

Was ist gute Kunst?

Gute Kunst ist solche, die für jeden nachvollziehbar, bis ins letzte Detail logisch klar ist und nur eins braucht: die jeweils richtige ästhetische Methode. Gute Kunst ist grundsätzlich analytisch und antiindividuell, das heißt, der Künstler tritt ganz hinter dem Werk zurück. Die Schatten des Ichs, die sich in persönlichem Geschmack, in persönlichem Stil auf ein Werk legen, sind für mich Momente der Verdunkelung und des Rückfalls in alte Formen der Kunst. Meine Kunst kennt kein Ich, kein Selbst und keinen Autor. In der Arbeit schaffe ich den Künstler, das Individuum, den Autor als Experten und Fachmann, der Bilder selbst mit der Hand produziert ab. Beim Betrachten der Bilder der Serie BYE BYE werdet Ihr zu Mitautoren. Wenn vom Tod des Autors gesprochen wird und Ihr, wie ich es postuliere, die Autoren meiner Bilder seid, dann lasse ich Euch diesen Tod in Eurer Imagination als den eigenen erleben.

Wie bist du eigentlich auf die Idee zu der Serie BYE BYE gekommen?

Durch die Pictures in our Minds.

Das musst du kurz erklären.

Schon 1985 hatten wir die Technik der Kommunikation von Imaginärem auf die Spitze getrieben, indem wir uns weit entfernten von Referenzen auf Außenliegendes, uns stattdessen auf das Innere des Betrachters, seine Phantasie- und Gedankenarbeit bezogen. Wir machten den Betrachter zu seinem Medium: Die Hardware ist sein Gehirn, die Software seine Imagination, auf seiner Festplatte sind alle Bilder, die in seinem Kopf gespeichert sind. Deshalb gab ich dem Projekt den Titel Pictures in Our Minds. Die Besucher der ersten Ausstellung Pictures in Our Minds, die 1985 in den Hamburger Messehallen anlässlich einer Medienmesse gezeigt wurde, betraten eine Fotoausstellung ohne Fotos. Statt der Bilder sahen sie schwarze Tafeln, auf denen in weißer Schrift die Beschreibungen bekannter Fotos zu lesen waren. Die Texte auf den Tafeln des imaginären Museums ließen die Bilder in den Köpfen der Betrachter entstehen: Albert Einstein streckt die Zunge raus, Marilyn Monroe auf Subway-Luftschacht, Südvietnamesischer Polizeipräsident erschießt einen Vietkong etc.

Das ging dann auch weiter. Die Ausstellung wurde weltweit gezeigt, mehrfach ausgezeichnet und immer wieder variiert.

Nach der konzeptuellen Methode der Pictures schuf ich in den vergangenen Jahren etliche imaginäre Museen, machte Fotoausstellungen ohne Fotos, Designausstellungen ohne Design etc. Die Pictures gibt es als Bücher, im Internet, auf Tonträgern und als Sound-Installationen. 2007 zeigte das NRW Forum Düsseldorf in der Ausstellung meiner neuesten Pictures in Our Minds die Sound-Installation 10 Pictures in our Ears, die der WDR an 10 Tagen sendete.

Das Bild im Kopf ist besser als das Foto an der Wand?

Es ist stärker, persönlicher, emotionaler, weil es im eigenen Kopf ist. Das haben wir gemerkt, als die Besucher der Ausstellung in den Nebenraum gingen, wo wir die Originaldias zeigten. Der Effekt bei den Besuchern war oft der gleiche: Enttäuschung darüber, dass die imaginierten Bilder sehr viel toller sind als die gezeigten Originale.

Und das hat dich dann auf die Idee gebracht, ikonografische Fotos zu entkernen?

Mit den Bildern der Serie BYE BYE gehe ich in der Kommunikation des Imaginären noch einen entscheidenden Schritt weiter, allerdings in die entgegengesetzte Richtung: Statt der Bildbeschreibungen auf Tafeln sehen wir grob gerasterte Reproduktionen von Bildern, die uns irritieren, weil sie uns sehr bekannt vorkommen, obwohl wir sie so noch nie gesehen haben. Wir sind hin- und hergerissen zwischen Bekannten und Unbekannten, Sichtbaren und Unsichtbaren, Realen und Irrealen, Erinnern und Vergessen, Schein und Wirklichkeit etc. Die Arbeiten der Serie BYE BYE sind fotorealistische digitale Gemälde, Digigraphien, die in aufwendigen Arbeitsprozessen nach meinen Vorgaben neu geschaffen werden: Aus der Reproduktion des Zeitungsfotos wird Rasterpunkt für Rasterpunkt entfernt, dann jedes Detail, das an Bekanntes erinnern könnte, durch digitale Übermalung unsichtbar gemacht, und schließlich wird das Ganze mit dem Schleier eines Zeitungsrasters wieder zugedeckt, als wäre nichts passiert.

Eignet sich jedes Foto?

Je mehr wir aus dem Bild wegnehmen und je komplizierter und detailreicher der Hintergrund ist, der ergänzt werden muss, desto schwieriger wird es. Das heißt, nur aus bestimmten Fotos können Bilder der Serie BYE BYE werden.

Nehmen wir beispielsweise das Bild von den amerikanischen Soldaten, die nach der Eroberung der japanischen Insel Iwo Jima die US-Flagge hissen. Da sind Soldaten zu sehen, die mit viel Verve und Kraft und angestrengt ehrenvollem Gesichtsausdruck das Sternbanner in den Boden rammen. Du nimmst jetzt die Soldaten raus, und es bleibt nur noch die Flagge übrig und dahinter ist Landschaft. Kannst du schildern, wie das technisch geht?

Bei diesem Bild ist es relativ einfach, weil der Hintergrund – der graue Himmel – neutral ist. Da kann man die Soldaten wegnehmen und den Himmel ergänzen.

Schwierig wird es bei einem Bild wie dem Kniefall von Willy Brandt in Warschau. Da befinden sich doch Menschen im Hintergrund.

Bei Willy Brandt musste all das, was Willy Brandt verdeckt – das sind vor allem die Fotografen, die regennassen Steinplatten, auf denen Brandt kniet, die Spiegelungen und Schatten – all das musste neu gemalt werden.

Im vergangenen Jahr hast du mit den ersten Motiven aus der Serie BYE BYE bei den Lead Awards eine Medaille gewonnen. Die Preisverleihung fand vor 1.200 Gästen aus Kunst, Kultur und Medien in den Hamburger Deichtorhallen statt. Inzwischen hast Du die Serie mit 40 Arbeiten vervollständigt, und wieder sind die Deichtorhallen ein wichtiger Ort für diese Arbeit: Vom 16. bis 25. April 2010 wird die komplette Serie dort erstmals der Öffentlichkeit gezeigt. Was meinst du, wie wird das Publikum auf deine Bilder reagieren?

Die Bilder werden die Betrachter irritieren, involvieren und faszinieren, wobei die Kommunikation des Imaginären im Bild auf vielfältige Art erlebt wird: Viele machen sich auf die Suche nach dem Unsichtbaren, andere genießen die Leere,  andere denken über das Verschwinden nach, andere über das Vergessen, über Tod und Verderben. Und wieder andere lassen sich von der magischen Kraft des Imaginären sobeeindrucken: Sie treten ein ins Bild und werden zu Protagonisten der Szenen, werden zum getroffenen spanischen Freiheitskämpfer, zu James Dean auf dem Times Square, zu Mao im Jang Tse Kiang etc.

Was ist dir bei der Interaktion zwischen deinen Bildern und mir als Betrachter besonders wichtig?

Die Autorenschaft. Meine Kunst ist nicht mein Werk, sondern ganz allein deins, du bist der Schöpfer deiner Bilder in deinem Kopf. Mich gibt es gar nicht. Das heißt, so wie das Abgebildete in der Imagination des Betrachters verschwindet, ergeht es dem Autor. Das meine ich mit Selbstabschaffung des Künstlers als Autor und Experten seiner Kunst: Ich trete ganz hinter meinem Werk zurück, damit du in das Bild eintreten kannst. Die Arbeit, die die Kunst macht, musst du tun.

Woher kommt deine Faszination am News-Foto und am gedruckten, stehenden Bild? Dieses Sujet zieht sich ja durch deine gesamte Arbeit – von den Pictures in Our Minds bis zu BYE BYE.

Wir haben vor Jahren ein Experiment gemacht: Wir wollten herauskriegen, wie es kommt, dass einige gedruckte Bilder zu Ikonen geworden sind, und warum sie sich tief in unser Gedächtnis eingebrannt haben. Seit 2001 bin ich – neben meiner Lehrtätigkeit an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung im ZKM Karlsruhe – Gastprofessor an der Central Academy of Fine Arts Beijing, der führenden Kunstakademie Chinas. Die Workshops und Seminare mit den chinesischen Studenten führte ich gemeinsam mit meiner Lebenspartnerin, der chinesischen Fotokünstlerin Kexin Zang, durch, wobei eins unserer Projekte die Arbeit an der Ambient-Foto- und Ambient-Video-Ausstellung „Shooting Beijing“ war, die 2004 als Teil unserer Multimedia-Ausstellung Shooting Beijing/Shooting Karlsruhe in der Hochschule am ZKM gezeigt wurde. Ein weiteres Experiment: die Arbeit mit den chinesischen Studenten am Aufbau des imaginären Museums Pictures in the Minds of Chinese People. Aus mehreren tausend Fotos der Chinesen und nach umfangreichen Recherchen, Gesprächen und Diskussionen wählten wir die zwölf wichtigsten Bilder der Chinesen aus, gaben ihnen Titel, beschrieben die Bilder und ihre Geschichten. Stell dir die schwarzen, quadratischen Tafeln mit weißer Schrift vor, lies die Titelzeilen auf den Tafeln, dann die Bildbeschreibungen: Die Kaiserinwitwe Ci Xi in Gewändern eines Bodhisattva Alvalokites Vara. Dr. Norman Bethune operiert einen Schwerverletzten im zweiten chinesisch-japanischen Krieg. Liu, Shao Qi ehrt Shi, Chuan Xiang für das Leeren der Toiletten Pekings. Der fünf Kilometer lange Abschied von Zhou En Lai. Chinas Mongolei-Kuh-Joghurt-Supergirl 2005 mit Panda. Du erkennst keins der Bilder. Aber diese zwölf Bilder sind die wichtigsten Bilder für 1,3 Milliarden Menschen und der wesentliche Teil des kollektiven Gedächtnisses der größten Nation der Erde. Das heißt, die Bilder, die für die meisten Menschen der Erde faszinierende Ikonen sind, bedeuten dir nichts. Auch wenn ich Dir die Originalfotos zeige, wird sich das nicht ändern: Es werden für Dich ziemlich nichtssagende Fotos bleiben.

Wie kommt das?

Bilder werden erst dann zu Ikonen, wenn wir ihre Geschichte kennen. Dass ein Bild mehr als 1.000 Worte sagt, stimmt erst dann, wenn wir die 1.000 Worte in den Medien, speziell in den gedruckten Medien, den Zeitungen, Zeitschriften und Büchern gelesen haben. Das heißt, die Bilder brauchen ihren gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext, und wenn ihre Geschichten beeindruckend, berührend, aufregend, faszinierend, erschreckend, abstoßend, skandalös, wunderbar oder wichtig sind, werden es die Bilder auch und entfalten eine Macht, die so stark sein kann, dass Kriege beendet oder begonnen werden.

Wie stark berührt dich selbst ein solches ikonografisches Bild, während du mit ihm arbeitest?

Ich setze mich mit den Bildwelten der Massen- und Hochkultur und mit der Wahrnehmung medienvermittelter Bilder auseinander. Meine Bildarchive sind Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen, Filme, Internet, Werbung und Kunst. Ich bin ein begeisterter Zeitungsleser und sammle alles, was mir auffällt. Ich erfinde keine neuen Bilder, meine Bilder sind Bilder über Bilder. Großen Spaß macht mir, aus journalistischen, gedruckten Bildern etwas kategorisch anderes zu machen: Kunst, die dann in Museen ausgestellt, in Katalogen wie diesem vorgestellt, als Straßenkunst auf Plakaten gezeigt und in Zeitungen, aus denen die Bilder kommen, in Kunst verwandelt, wieder eingeschleust wird.

Würdest du sagen, du machst aus Pressebildern Kunst?

Es entsteht ein neues, eigenständiges Kunstwerk. Erst wird alles, was das Bild zum bekannten Bild macht, entfernt und unsichtbar gemacht. Der Vordergrund verschwindet, der Hintergrund wird zum Vordergrund. Mit dem Auslöschen des Inhalts wird die Form zum Inhalt. Plötzlich werden die ästhetischen und formalen Qualitäten des Bildes sichtbar; es entstehen gute Bilder oder sehr gute oder sehr, sehr gute, wie Albert Oehlen meint.

Was ist ein sehr, sehr gutes Bild?

Zum Beispiel das BYE BYE-Bild mit dem Titel TAM04, aufgenommen nach dem Tsunami 2004. Es zeigt die Hand eines Toten und seine unsichtbare Frau, die ihn beweint, von der nur Spuren ihrer Hände im Sand zu sehen sind. Eine Diagonale zieht sich von links unten nach rechts oben, teilt das nahezu leere Bild so, dass zwei fast gleichgroße Dreiecke entstehen. Am oberen Ende der Diagonale in der rechten Bildecke, gegenüber der Hand liegt eine lederne Sandale, die wahrscheinlich zu der Unsichtbaren oder einem anderen Opfer der Flutkatastrophe gehört. Die Diagonale wird von zwei Betonplatten, die aufeinanderstoßen und mit feinem gelben, fast goldenen Sand bedeckt sind, gebildet. Die diagonale Bildachse ergibt sich auch durch die Kamerahaltung des Fotografen, der sich bemüht hat, die Frau bildfüllend und den Körper des Toten außerhalb des Bildfelds so zu fotografieren, dass uns der Anblick seines aufgedunsenen Körpers, von dem wir die blutige, geschwollene, fliegenbedeckte Hand sehen, erspart bleibt. Diejenigen von uns, die das ursprüngliche Foto kennen, haben die Frau in ihrem leuchtend violetten Sari vor Augen. Das Bild ist ein Beispiel, wie durch Wegnehmen der entscheidenden Elemente ein gut komponiertes Werk entsteht. Mit dem Entschlüsseln des Bildes werden wir zu Autoren, gleichzeitig zu Protagonisten und empfinden etwas von dem, was die Frau empfunden haben mag.

Im Zusammenhang mit den Bildern der BYE BYESerie werden einigen Leuten natürlich sofort wieder reflexartig die Begriffe Manipulation und Fälschung einfallen. Vor vielen Jahren hätten sie möglicherweise sogar eine Diskussion entfacht, ob man in Fotos überhaupt so eingreifen kann. Gut, diese Zeiten sind dankenswerterweise vorbei, aber trotzdem sind die Begriffe wichtig, und du bist ja auch bei deiner Arbeit auf interessante Ergebnisse gekommen. Stichwort: das Bild von Mao im Jang Tse Kiang.

Du meinst Manipulation als Bildfälschung, die das Ziel hat, Leute irrezuführen und zu täuschen. Dabei sollten wir auf die unterschiedlichen Realitätsebenen der Bilder und des Abgebildeten achten. Journalistische und dokumentarische Bilder sind gefälscht, wenn die Realität der Abbildung abweicht von der Realität des Abgebildeten. Das gibt’s bei Bildern der Kunst – solange sie keine Kujau-mäßigen Fälschungen sind – nicht, weil sie eigenständige Schöpfungen sind, die sich ihre eigene Realität schaffen, in der die Realität des Abgebildeten identisch mit der Realität der Abbildung ist. Das heißt, in der Kunst gibt es weder falsch noch richtig, nur gut oder schlecht, wenn man will. Das gilt nicht nur für gemalte Bilder, auch für Bilder, auf denen das Abgebildete eine journalistische Fotografie ist. An den Bildern der Serie BYE BYE wird der Unterschied der Realitäten besonders deutlich, gerade wenn das dem BYE BYE-Bild zugrundeliegende journalistische Bild ein gefälschtes Bild ist wie das, auf dem Stalin seine politischen Gegner hat entfernen, oder das, auf dem Mao sich hat zufügen lassen. Bei der Arbeit am Bild des im Jang Tse Kiang schwimmenden Mao merkten wir, dass die Köpfe von Mao und seiner Bodyguards recht unbeholfen ausgeschnitten und auf die Abbildung der Wasseroberfläche aufgeklebt wurden. Nach dem Wegnehmen der Köpfe hatten wir aus dem gefälschten Foto das BYE BYE -Bild mit dem ungefälschten Foto vom Fluss gemacht. Ob es der Jang Tse Kiang ist, wissen wir nicht, nur dass es ein Bild aus der FAZ ist.

In der Geschichte der Fotografie hat Verfremdung und Manipulation schon immer eine Rolle gespielt. Bereits in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts haben Fotografen ihre Bilder auf fantasievolle Weise bearbeitet, retuschiert und manipuliert. Die Illustrierten dieser Zeit sind ein Schatz an kunstvoller Fotobearbeitung. Da wurde was rausgeschnitten oder reinmontiert, da wurde mit Deckweiss was weggepinselt oder mit Tusche was hinzugefügt, da wurden Palmen durch Sonnenschirme ersetzt und ein Meer auch mal durch eine Berglandschaft. Die Wirklichkeit, die Fotos angeblich zeigten, war noch nie so richtig wirklich. Bildbearbeitung ist kein Thema des digitalen Zeitalters.

Die neuen Techniken der Bearbeitung und Veränderung der Fotografie haben den Stil der Künstler sehr stark geprägt. Die Düsseldorfer Schule wäre ohne das Labor Grieger wahrscheinlich nicht entstanden. Und das Labor Grieger in Düsseldorf wäre ohne Andreas Gursky, Thomas Ruff, Thomas Struth und all den anderen Künstlern nicht das geworden, was es jetzt ist: Atelier und Studio der Düsseldorfer Schule. Mit den digitalen Techniken der Bildbearbeitung sind aus Fotografen anerkannte Maler geworden. Sie nehmen das Foto als Ausgangsmaterial, die Kunst entsteht durch seine Bearbeitung. Jedes eindrucksvolle Bild von Gursky ist nicht nur ein Bild, er hat es aus hunderten von Bildern zusammengesetzt, und Andreas ist stolz darauf, dass er nicht die Realität abbildet, sondern sich seine eigene neue Realität schafft mit allen technischen Mitteln, die es heute gibt. Insofern sind Andreas’ Bilder komplexe Collagen und Montagen, denen man das Artifizielle und das technische Virtuose erst ansieht, wenn man genau hinschaut. Dann entdeckt man, dass das Bild nicht eine Perspektive hat, sondern viele und dass die Proportionen andere sind als in unserer Welt. Und wenn wir ganz genau hinschauen, kann es passieren, dass Andreas ganz klein in seinem Bild auftaucht.

Heißt das, dass kein Bild mehr endgültig ist? Dass dank der unbegrenzten Bearbeitungs-Möglichkeiten kein Foto nur so ist, wie es ist, sondern immer auch so, wie es sein könnte?

Ja, aber ich mache es genau umgekehrt: Ich mache keine neuen Bilder, ich nehme gemachte Bilder. Und meine Bilder entstehen nicht durch Zufügen. Meine Bilder entstehen durch Wegnehmen und Weglassen. Wenn die Bilder anderer digitale Collagen sind, dann sind meine Decollagen, ähnlich wie Plakate, die so lange abgerissen werden, bis nichts mehr von ihnen übrig bleibt. Ich bin keiner, der neue Bilder malt, sondern eher einer, der alte übermalt.

Es gibt durchaus ernstzunhmende Kunstkritiker, die deine BYE BYE-Bilder an Arbeiten von Gerhard Richter erinnern. Ihre Abstraktion, ihre Reduktion, das Verschwommene, das Verwischte, die Reste des ursprünglichen Fotos – funktioniert das auch losgelöst vom inhaltlichen Kontext? Funktioniert es auch nach rein formalen Gesichtspunkten?

Diejenigen, die das BYE BYE-Bild an Gerhard Richter erinnern, haben wahrscheinlich nicht die notlandende Lufthansa-Maschine im Kopf. Und diejenigen, die das Bild der Notlandung auf dem Hamburger Flughafen erinnern, werden wahrscheinlich nicht an Gerhard Richter denken. Das heißt, die BYE BYE-Bilder funktionieren so und so – entweder formal-ästhetisch oder inhaltlich. Kommt drauf an, wer sie sieht. Es gibt auch Leute, die im Bild die Aura des Unsichtbaren sehen oder den Toten, der in ihrer Vorstellung lebendig wird oder den Tod des Autors oder sich selbst als Autor.

Was eigentlich ein Widerspruch zu der These wäre, dass die Serie ihre Kraft daraus bezieht, dass sie ausschließlich mit dem kollektiven Gedächtnis spielt?

Sie spielt auch mit dem kollektiven Vergessen. Und sie spielt mit der Wahrnehmung, die so unterschiedlich und individuell ist wie wir.

Die Serie hieß ja mal Corrected Pictures. Dank des von mir sehr geschätzten Kunstphilosophen Diedrich Diederichsen wurde dann BYE BYE daraus. Warum?

Diedrich hatte ich Anfang der 80er Jahre zum Texten in die GGK geholt, weil ich seine Beiträge in in der Musikzeitschrift Sounds toll fand. Und als ich 1984 die GGK verließ, um meine eigene Agentur aufzumachen, ist er mitgekommen und wir haben vier Jahre in meiner KKG zusammengearbeitet. Er schrieb gern lange Texte, ich kurze. Dass wir so gut zusammenarbeiten konnten, lag auch an der Verschiedenheit unserer Temperamente, die beim Texten deutlich wird. Mir, dem Tüftler und Einkocher, dem Komprimierer und Meditierer, stand er als Überproduzierer, der schnelle, ewig allzeit bereite Dampfkochtopf, der den Unterkiefer vorschiebt und die Worte rauslaufen lässt, gegenüber. Ich hab mal beschrieben, dass dieser Typus des Werbetexters sozusagen gegen die mystische Headline, die ausufernde üppige Body Copy erfand. Hier spielte die Headline kaum noch eine Rolle, das Bild wurde vom Text ohnehin schon aus Platzgründen zur Nebensache degradiert, und die Texter der Schwätz- und Schwafelschule erkämpften sich neue Freiheiten. Dem Vorbild Gossage nacheifernd – der in The New Yorker in Folgen von für einen Whiskey die Anzeigenseite vollgeschrieben hatte, und wenn er zum Ende der Seite gekommen war, mitten im Satz aufhörte und auf die Fortsetzung im nächsten Heft verwies – dachten sich die Texter lange, feuilletonistische Prosastücke aus, in denen sie eine Menge wagen und experimentieren konnten, weil ihre Gewagtheiten eh kaum einer las. Gedanken wie diese stehen in meinem Buch Werbung ist Kunst, das wir beide schrieben – er einen Teil, den ich kürzte, ich den anderen, den erergänzte. Auch für meine Erklärung der Werbung zur wirklichen Kunst des Jahrtausends fand er überzeugende Begründungen, die wohl auch dazu beigetragen haben mochten, dass heute nicht wenige Künstler Werbung machen und etliche Werber Kunst, was beim Besuch derAusstellung Art meets Ads, die ich mit Jürgen Harten in der Düsseldorfer Kunsthalle kuratierte, nicht zu übersehen war. Anfang vergangen Jahres, suchte ich einen Vorwand, Diedrich wiederzutreffen. Zum Anlass nahm ich meine Arbeiten, die unter dem Titel Corrected Pictures in der Zeitschrift Vorn veröffentlicht und daraufhin von der Jury der Lead Academy ausgezeichnet wurden. Wir trafen uns im Einstein unter den Linden, er bestellte ein Bauernfrühstück, ich einen Tee. Ich zeigte ihm meine Arbeiten in der Zeitschrift und sagte, ich fänd den Titel meiner Bilder ziemlich langweilig und würde ihnen gern einen Titel geben, der die Bilder nicht beschreibt, sondern ihnen eine zusätzliche Bedeutung gibt, ähnlich, wie wir es in der Werbung machen, wo wir ja über die Abbildung des Kartoffelpuffers von Pfanni nicht schreiben „Pfanni Kartoffelpuffer“, sondern z.B. „Panni Pfuffer“ oder „Das Jüngste Gericht“. Und dann machten wir es so, wie früher: Wir sammelten so viele Titelideen, bis eine DIN A 4 Seite voll war. Einige waren Abwandlungen von Buchtiteln, z.B. Against the Night oder Songtitel wie Bye, Bye Love von den Everly Brothers. Wobei am Schluss – wie das immer bei Ideengesprächen ist – nicht mehr festzustellen ist, welcher Text von wem kam. Ein paar Tage später schaute ich mir den Songtext von Bye, Bye Love an, und fand, er könnte einigermaßen zu den meinen Bildern passen und ihnen vielleicht noch eine zusätzliche Dimension geben: die des Abschieds vom Anderen, des Verschwindens, des Todes, der Leere und der Einsamkeit. Weil ich es nicht lassen kann, hab ich den Titel dann noch um ein Wort gekürzt, auch damit nicht jeder gleich an den Song denkt. Dass einige bei Michael SchirnerBYE BYE an den Tod des Ichs, des Individuums oder des Autors denken, gefällt mir sehr.

Haben die BYE BYE-Bilder für dich auch eine emotionale Komponente?

Gregor Jansen, mein Kollege aus dem ZKM Karlsruhe, der jetzt Direktor der Kunsthalle in Düsseldorf ist, sagte, er habe selten Bilder gesehen, die ihn so stark berührt hätten wie meine. Wobei ich ihm sagte, das seien nicht meine Bilder, das sind die gemeinsamen Bilder, es sind Deine Bilder, es sind unsere Bilder. Ich hab nur ein bisschen davon wegelassen, damit du hineinschlüpfen kannst. Deshalb mache ich keine eigenen Bilder, keine Bilder über mich, sondern Bilder über Bilder. Das geht in der Serie BYE BYE mit den Bildern aus Tageszeitungen. Das ging aber auch mit den Ölbildern der Serie Painters.

Für die Serie Painters hast du die Signaturen berühmter Maler ganz groß auf Leinwände malen lassen. Nur den Bildausschnitt mit Signatur, sonst nichts. Das gemalte Bildmotiv hast du auch wieder verschwinden lassen. Ging es bei der Arbeit  nicht auch darum, den Künstler als Marke in den Vordergrund zu rücken?

Es ging mir bei den Ölbildern mit den Maler-Signaturen vor allem um das Problem der Autorenschaft in der Kunst. Für die Einladungskarte zur Ausstellung in der Galerie von Hans Mayer hatten wir, d.h. Diedrich Diedrichsen und ich, den Text verfasst, den ich hier zitiere, zum einen, weil er ein kleines Pamphlet ist, zum anderen weil danach eine Pointe kommt: „Da es mir ernst war mit der Gleichsetzung von Werbung und Kunst, musste ich noch den letzten Schritt tun und die bildende Kunst ganz nebenbei mit zu meiner Domäne erklären. Ich habe, um das Problem der Autorenschaft in den Mittelpunkt zu stellen und um die Herkunft guter Ideen aus der Werbung zu belegen, eine Idee aus meiner Düsseldorf-Kampagne aufgegriffen: die Anzeige mit den Signaturen berühmter Maler. Dies Signaturen habe ich nun, immens vergrößert und mit dem Originalhintergrund in Öl gemalt, dort ausgestellt, wo ich vor Jahren die Ausstellung Werbung als Kunst gemacht hatte, in der Galerie von Hans Mayer. Die Gemälde zeigen, dass aus Kunst Werbung wurde, aus der schließlich Kunst wird, wobei wir am Ende dieser Geschichte wieder bei ihrem Anfang angelangt wären. So habe ich eine Situation geschaffen, wo nichts aus den Arbeitsbereichen, die ich im Laufe der Zeit ausgebaut habe, verschwunden ist, aber jede Menge Überhöhungen, Infragestellungen und Ergänzungen dazugekommen sind, so dass wir es mit einer Gesamtheit aller kreativen Betätigungen und Berufe zu tun haben, die alle auf ihre Vollendung in der Selbstabschaffung des Experten und Fachmanns hinauslaufen. Unter diese Selbstabschaffung habe ich mich entschlossen, da ich eben auch nur ein einzelner, sterblicher Mensch bin, meinen Namen als Signatur zu setzen, für das Ganze also Autorenschaft beanspruchend, das in seinen Teilen die Autorenschaft ad absurdum geführt hat, und bewiesen, dass Kunst nur Werbung und Werbung nur Kunst ist, also beides nichts Besonderes, aber das Höchste und Erhabenste.“

Und die Pointe?

Vor der Ausstellungseröffnung rief Hans Mayer mich aufgelöst an: Es sei etwas Schreckliches mit der Einladungskarte passiert, die Druckerei habe statt unseres Textes den Blindtext unseres Layouts auf die Einladungskarte gedruckt. Anstelle meines Pamphlets stand da: Kisuaheli neumix dok barcmope. Rewitz gofella queju vinre. Esni uz balomre rindupu doan, Neukifka in lenima dakai typeshop herangu des Henri ounim herero wubo havas en. etc. Ich konnte Hans Mayer nur mit Mühe davon abhalten, die Karten mit dem Originaltext neu drucken zu lassen. Weil ich den Kisuaheli neumix-Text besser fand als meinen, wurde die Karte mit Blindtext verschickt. Und niemandem ist der Fehler aufgefallen. Im Gegenteil: Wir wurden wegen der „kreativen“ Karte gelobt. Darauf habe ich mich entschlossen, der Serie den Titel Kisuaheli neumix zu geben. Dieses Jahr werden meine Bilder – wieder mit Blindtext auf der Einladung – in Berlin ausgestellt. Erinnerst du dich, dass damals, als die Bilder der Serie Painters in Düsseldorf ausgestellt wurden, die Zeitschrift Tempo, deren Chefredakteur du warst, einen Beitrag mit der doppelseitigen Abbildungen des Bildes mit der Signatur von Jean Dufy und der Überschrift Der doppelte Fake brachte? Da stand, mein erster Fake sei, dass ich die Unterschriften nachgemalt, also gefälscht hätte, mein zweiter Fake, ich hätte auch noch den Namen des Künstlers gefälscht, der Maler hieße Raoul und nicht Jean Dufy. Beides ist falsch, denn mein Bild ist keine Urkunde, sondern ein Kunstwerk in Öl auf Leinwand, und bei Jean handelt es sich um den Bruder von Jean Dufy, der übrigens sehr ähnliche Bilder wie Raoul malte. Dass nicht ich die Signatur-Bilder gemalt hatte, sondern Charline von Heyl, meine Assistentin, wurde im Beitrag nicht erwähnt, was ich schade finde, denn darauf war ich besonders stolz. Charline ist jetzt die Frau von Christopher Wool, dem Maler der tollen Buchstabenbilder, der jetzt ähnlich malt wie Charline.

Ich bin sicher, dass es diesen Tempo-Artikel nie gegeben hat, und dass Du dir das jetzt nur ausgedacht hast. Ich erinnere mich, dass wir damals sehr wohl geschrieben haben, die Ölbilder seien von Charline und dass du über diese sensationelle Enthüllung sehr sauer warst.

Vielleicht hast Du Recht. Vielleicht gibt es mich doch. Vielleicht hab ich meine Bilder selbst gemalt. Vielleicht hat Charline die Bilder von Christopher gemalt und so weiter.

Woher kommt dein Bestreben, möglichst antiindividuell zu arbeiten, und dein Interesse an einem Werk ohne Autor?

Ich hab in den 70er Jahren an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg studiert. Zu der Zeit beeindruckten mich die Ansätze von Duchamp bis Warhol in der Kunst, von McLuhan bis Foucault im Denken, die sich anschickten, den Autor als Subjekt zu pensionieren. Dies begann sich im Laufe der 70er durchzusetzen, erst in den Hochschulen, nach und nach im alltäglichen Feuilleton. Im selben Maße, wie sich die Verabschiedung von den traditionellen Ideen von Ich und Subjekt in der sogenannten Hochkultur abzeichnete – auch das „moderne Ich“ als Gegenstand der Literatur war ja nicht mehr die Zentrale eines selbständig, ganzheitlich und im Sinne der Aufklärung vernünftig handelnden Individuums, sondern ein von Eindrücken, Launen und Spontaneitäten durchzogenes Schlachtfeld – im selben Maße wurde die Werbung für mich interessant. Denn Werbung kennt kein Ich, kein Subjekt und keinen Autor. Kampagnen, Ideen und Konzepte werden nie von Einzelnen entwickelt, immer von Teams, die in Netzwerken arbeiten. Die Werke der Werbung entstehen anonym, antiindividuell. So wollte ich auch arbeiten. Und nicht so wie in der Kunst, deren übliche, schon längst bis zur Unerträglichhkeit überdehnten Positionen – wie Hans Ulrich Reck schreibt – einer kunstmythologisch verklärten erfindenden Autorenschaft und den üblichen Figuren von Individualität, Ich und Subjekt, die im Geniekult gipfelten, und die ich absolut peinlich fand. Deshalb bin ich in der Werbung untergetaucht und hab die Werbung zur zeitgemäßeren Kunst erklärt.

Gibt es denn deiner Meinung nach überhaupt noch so etwas wie eine ganz originäre Urheberschaft?

„Originale gibt es eigentlich nicht,“ schreibt Thomas Bernhard. „Es gibt nur ein völlig veraltetes Urheberrecht, deren Vertreter nicht begriffen haben, dass in der aktuellen Kunst ganz andere Gesetze gelten und die z. B. von Concept Art und Appropriation Art keine Ahnung haben,“ sagt Hans Ulrich Reck. Unter der Überschrift „Geschichten, Lieder und Bilder sind keine Fahrräder“ schreibt Michael Hutter, Professor an der Technischen Universität Berlin, in der „Süddeutschen“ vom 26. März 2010: „Hat die Schriftstellerin, die zitiert, ohne die Quelle zu nennen, „geklaut“? Ist der Schüler, der einen Film herunterlädt, ein Dieb? Ich schlage vor, mit der Schauermär vom geistigen Diebstahl aufzuhören. Geist wird nicht gestohlen … der Dieb stiehlt Sachen. Das gestohlene Fahrrad ist weg, es ist nicht mehr an seinem Platz, es fehlt seinem Besitzer. Geistige Inhalte – Geschichten, Lieder, Bilder in allen möglichen Kombinationen – sind nicht weg, wenn sie erschlichen worden sind. Bilder und Bücher sind noch an ihrem Platz … Geistige Inhalte sind öffentliche Güter, das heißt, sie können von vielen gleichzeitig genutzt werden … „Zum Recht, das den Urheber schützt, müsste jetzt ein Recht kommen, das die Nutzer schützt, damit die Freiheit der Kunst nicht eingeschränkt wird,“ hat unlängst ein Jurist in der „FAZ“ geschrieben. Den Namen des Autors hab ich vergessen.

Aber wie hältst du es denn grundsätzlich mit anderen Autoren? Du nimmst deren Arbeiten undmachst was draus – ich sage das jetzt mal wertfrei. Stellt sich für dich überhaupt die Frage nach dem Respekt vor dem Werk anderer? Hast du Skrupel, wenn du ihr Schaffen benutzt, verfremdest und umgestaltest?

Ein Beispiel: Meine CD mit dem Titel Pope – der Titel ist nichtvon mir, sondern von Ulli Maier, dem Maler des Bilds von Anderas Gurskys Foto mit dem Regal und den Schuhen, die alle in eine Richtung gucken, wobei Ulli einen Schuh in der Mitte in die entgegengesetzte Richtung gedreht gemalt hatte. Ulli meinte, die CD des Werbepapstes müsse unbedingt Pope heißen. Ich lese mal aus dem Pressetext mit der Überschrift „Die Musik von Michael Schirner“: Die Auflösung der alten Regel für das Zusammenspiel von Melodie und Harmonie ist für Michael Schirner das wesentliche Element moderner Popmusik. Er geht in seiner Musik noch einen Schritt weiter: Er zerstört nicht nur Melodie und Harmonie, er zerstört den Rhythmus. Die Strukturen der Stücke werden aufgelöst und die Mikrostrukturen erscheinen. Die Klangerlebnisse sind extrem, den Hörgewohnheiten des Publikums wird heftig widersprochen, die Musik stößt an die Grenzen. Schirners Konzept ist einfach und radikal: „Wir spielen Stücke, die wir mögen, und zerstörensie, so gut wir können“. Das Konzept für Pope entwickelte Michael Schirner auf Jamaica. Die CD ist autobiographisch, sie handelt von der Zeit, als Michael Schirner mit drei Frauen und einem Kind auf Jamaica war. Die Stücke erzählen die Geschichte der Protagonistinnen, das Video King of Jamaica die Geschichte von Xenia, Ulli, Pia und dem King. Sowohl bei den Stücken der CD Pope und der Maxi Singl für DJs Xenia dub mix, Xenia club mix und dj remix tools habenwir die Urheber- und Nutzungsrechte sklavisch befolgt. Ebenso beim Pope Video King of Jamaica. Im Heftchen, das der CD beiliegt, habe ich allen Beteiligten gedankt: „Ich danke Ulli und Xenia, ihrer Tochter, die mich nach Jamaica ins Trident – dem Hotel im englischen Landhaustil, grün und weiß, Buchsbaumhecken, 50 Pfauen und Perlhühner – begleitet haben und mich trösteten. Ich danke Pia und ihrer Schwestern Miriam, die ein paar Tage später kamen, um uns Gesellschaft zu leisten: Pia, die feststellte, dass wir nicht zusammenpassen, und Miriam, die dort das Video zu Pope mit Pia, Uli, Xenia und mir drehte. Ich danke dem Produzenten Suppi Huhn, den Musikern und allen, die mir gute Ratschläge gegeben und geholfen haben: Diedrich Diederichsen, Andreas Dorau, Frank Fenstermacher, Jochen Hülder, Inga Humpe, Thomas Junk und Ulli Maier.“ Auf der nächsten Seite steht das Konzept von Pope: „Die Idee von Pope ist einfach: Wir spielen Stücke, die wir mögen, und zerstören sie, so gut wir können. Die ersten zehn Stücke sind soft, der Rest hardcore.“ Dann die Liste aller an den Produktionender CD und des Videos Beteiligten. Die Produktion machte ich mit Suppi Huhn in seinem Studio. Wir produzierten entsprechend dem Konzept in zwei Stufen: Zuerst spielten wir die zehn Stücke, die wir mögen. Wir hatten dreizehn Musiker im Studio, die spielten Stücke von Beck Hansen, Michael Nyman, Daft Punk, Ween u.a. nach. What Time is Love von The KLF mussten wir nicht nachspielen, weil die Gruppe uns die Nutzungsrechte schenkt. Dann kam die zweite Stufe: Wir zerstörten die Stücke, so gut wir konnten. Für die Zerstörung hatte ich ein spezielles analoges grafisches Verfahren entwickelt, das sehr effektiv ist, das heißt Pope war kaum zu ertragen. Ein paar Stimmen zu Pope: „Das ist Scheiße!“ schreibt Walter Holzbauer von Wintrup Music; „I was amused“ Inga Humpe; „Das Video ist ja mal der Hammer. Wenn der Track mich schon in meinen Grundmauern erschütterte, dann finde ich für die Umsetzung keine passenden Worte. Vor drei Jahren, als Towas Tei sein erstes Album veröffentlichte, sagte die Weltpresse: Dieses Album ist seiner Zeit um mehrere Jahre voraus. Was soll dann Pope sein? Musik für das 4. Jahrtausend?“ Georg Roth, Dos or die. Zwei Live-Auftritte hatte Pope mit Cosima Russo, Suppi Huhn, Thomas Junk und mir als Spoken Voice. Einmal im Düsseldorfer Malkasten und dann im Kölner E-Werk. Die Düsseldorfer waren ziemlich irritiert. Die 1.000 Besucher im E-Werk brüllten nach den ersten Takten „Aufhören, aufhören …“. Als sie uns nach 20 Minuten mit Flaschen bewarfen, hörten wir auf.

Die CD „Pope“ wurde professionell von Chicken Records produziert und von Koch International vertrieben. Wieviel hat die CD gekostet, und wie war der Verkaufserfolg?

Das Projekt Pope fing an mit dem Handbuch von The KLF, Der schnelle Weg zum Nr.1 Hit. Ziel des Projekts war, gegen jede der Regeln von The KLF zu verstoßen. Der Erfolg der CD war entsprechend: der größte Flop aller Zeiten. Von 2.000 CDs wurden sieben verkauft. Produktion und Vertrieb hatte uns 100.000 DM gekostet. Hermann Diederichs, mein langjähriger Finanzberater, sagte: „Bitte, mach das nicht noch einmal.“

Wie hast Du es bei dem Projekt mit den Urheberrechten gehalten?

Wie gesagt, wir haben nichts gesampelt, sondern jedes Stück von Musikern nachspielen lassen, um es dann so gut wie möglich zu zerstören. Wir haben sklavisch genau Urheber- und Nutzungsrechte befolgt, um sie ad absurdum zu führen. Wir haben alle Gebühren und Honorare bezahlt – außer die für What Time is Love von The KLF, die uns ihre Nutzungsrechte schenken. Und wir haben uns die größte Mühe gegeben, keinen Erfolg zu haben. Für die 1.993 CDs, die in meinem Lager gestapelt sind, habe ich 100.000 DM bezahlt.

Bei Pope, wo es eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, hast du, wie du sagst, „sklavisch“ die Uhrherber- und Nutzungsrechte eingehalten. Wo wurde dir in deiner langjährigen Praxis als Werber und Künstler der Vorwurf der Urheberrechtsverletzung und des Plagiats gemacht?

Bei den vielen tausend Anzeigen, Plakaten, Filmen und all meinen künstlerischen Werken zweimal, und das zu Unrecht, wie sich dann herausstellte. Ernst wurde es allerdings einmal richtig: Das war, als Günter Mast, der Geschäftsführer von Jägermeister – damals unser größter Kunde – uns und anderen Agenturen den Vorwurf des Plagiats machte. Herr Mast war nämlich so stolz auf die „Ich trinke Jägermeister, weil …“ – Kampagne, dass er immer, wenn er eine andere Werbung sah mit einem Text, in dem das Wörtchen „weil“ vorkam, schrecklich zornig wurde und die Firma wegen eines Plagiats verklagte. Er ging durch mehrere Instanzen, um sich das Wort „weil“ schützen zu lassen. Wenn er Recht bekommen hätte, dann würde es in der deutschen Sprache keine Begründungen mehr geben. Ich jedenfalls hätte es begrüßt. Auch unsere Agentur bezichtigte Herr Mast des Öfteren eines Plagiats und zwar immer dann, wenn wir für einen anderen Auftraggeber eine Anzeige machten, auf der ein Mensch abgebildet war, und drohte uns dann mit Kündigung. Ich verbot darauf den Kreativen in der Agentur, Kampagnen mit Abbildungen von Menschen zu machen. Die vielen schönen Anzeigen und Plakate mit einfachen Abbildungen von Produkten, mit denen wir den Stil der Werbung in Deutschland prägten, verdanken wir also Herrn Mast.

Und wie oft haben andere deine Urheberrechte verletzt, deine Arbeiten plagiiert, kopiert, imitiert und nachgeahmt?

Mehrere hundert Mal.

Wie reagierst du auf Plagiate deiner Arbeiten?

Ich freue mich. Wenn andere unsere Ideen, Bilder und Texte nutzen, sich aneignen, kopieren, imitieren, nachmachen, re-mixen und all die schönen Techniken einsetzen, um unsere Werke weiterzuführen und zu verbreiten; das zeigt, dass sie unsere Arbeiten schätzen und dass unsere Arbeit nicht umsonst war. Ich habe mich riesig gefreut, dass Arno Schmidt, den ich toll finde, aus meiner frühen Anzeige mit dem nackten 8×4-Mädchen eine Collage auf einer Seite des Typoskripts seines wunderbaren Buchs Abend mit Goldrand gemacht hat. Ich bin stolz, dass er meine bescheidene Anzeige zum Teil seiner Kunst gemacht hat. Ich hab mich auch gefreut, als mir auf der Documenta in Kassel die Bilder meiner ersten Ausstellung Pictures in Our Minds in den Arbeiten von Hans Hollein wieder begegneten. Das Vergnügen, die Pictures in den Werken anderer immer wieder zu sehen, wurde in den folgenden Jahren zu einer lieben Gewohnheit. Jedes Mal hatte einer die simple Idee, die so einfach umzusetzen ist, und zu allen möglichen Themen passt, wiederentdeckt. Das letzte Mal, als Lo Breier mir zu meinen Bildern in der 60-Jahre-Ausstellung im Berliner Gropius-Bau gratulierte und nicht glauben wollte, dass ich die dort gezeigten Picture nicht gemacht hatte, sondern ein anderer, was mir sehr recht ist. Ich freu ich mich, dass auch die Bilder der Serie BYE BYE, die ich seit 2006 mache, nach ihrer Veröffentlichung in dem Magazin Vorn begeisterte Nachahmer gefunden haben. Eine findige spanische Werbeagentur hatte eine Kampagne daraus gemacht und wurde zwei Jahre nach der ersten Veröffentlichung meiner Arbeiten und ein halbes Jahr nach deren Auszeichnung durch die Lead Academy ebenfalls ausgezeichnet. Und viele weitere Monate später freute ich mich, dass das View-Magazin vom Stern die BYE BYE-Idee für einen Leserwettbewerb nutzte. Zwei schöne Beispiele dafür, wie aus Kunst Werbung wurde. Es gibt noch ein Beispiel, wo aus meiner Kunst die Kunst eines von mir geschätzten Künstlers wurde. Auf dem Katalog der Ausstellung Voids im Centre Pompidou ist ein Bild, das meinem Bild BYE BYE PAR60 so gleicht, dass man meinen könnte, es sei von mir. Stimmt aber nicht, im Index steht unter „Cover“: following a proposal by John Armleder. Es ist sehr gut möglich, dass er ein Jahr nach der Veröffentlichung meiner Arbeit auf dieselbe Idee kam, was ein netter Zufall wäre.

Man nennt dich oft „Werbepapst“. Was sagst du dazu?

„Wir sind Papst“. Man hat mich auch „Ex-Werbepapst“ genannt, was ich noch besser finde. Oder „Beuys der Reklame“, was auch gut ist, weil Beuys in meiner Ausstellung Werbung als Kunst unsere Plakate signiert hat.

Warum hast du dich „Panda der Kunst“ genannt?

Das hab ich für die Performance mit Jonathan Meese, der „Ameise der Kunst“, getan.

Ich schließe mit einem Spiegel-Zitat: Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Du musst mir nicht danken. Mich gibt es gar nicht.

Das aber recht heftig.

Das Gespräch von Markus Peichel mit Michael Schirner erschien unter der Überschrift „Mich gibt es gar nicht“ im Katalog zur Ausstellung Michael Schirner BYE BYE in den Deichtorhallen Hamburg 2010.

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