TEXTE

GEBURT

Hans Peter Weiß, 1978, Briefpapier

HE IS JUST AWAY

Michael Schirner

1978 wurde Kexin in Beijing, China, geboren. Ich freute mich, wie  gut alles zusammenpasste, wie eins aufs andere folgte und ineinander überging: Beijing und New York, Film und Wirklichkeit, Geburt und Tod. Und weil es sich so ergab, dachte ich: Leg’ doch Deinen Geburtstag mit Deinem Todestag zusammen, lass Dich lebendig zu Grabe tragen, wünsch’ Dir zum Geburtstag eine Beerdigung.

Ich erzählte Heike, was ich mir für den 16. 5. 1978 wünschte: Morgens wollte ich von zwei Bestattungsmännern sanft aus ihrem Bett in einen nicht zu pompösen Sarg gehoben werden, wollte die Feuertreppe des Hauses in der Thompson Street runtergetragen und in den schwarzen Chevrolet geschoben werden. Ich wollte mit geschlossenen Augen reglos daliegen, die Blicke von Heike und Virginia, Bettina und Wolf, Birgit und Hans, Pat und Hans-Peter auf mich gerichtet wissen, bis die schwarze Hecktür hinter mir geschlossen würde. Ich wollte von der Thompson Street in die  Bleecker Street gefahren werden, vorbei am Village Gate, wo ich letzthin den traurigen Allen Ginsberg mit seinem Glöckchen gesehen hatte, vorbei am Health Food Shop, wo wir am Abend vorher einen Aluminiumfolienluftballon gekauft hatten, in dem sich Heikes leeres Apartment spiegeln würde, vorbei an dem Laden, wo ich vor ein paar Tagen die Candy Pants gekauft hatte, die roten, essbaren Unterhosen mit Kirschgeschmack, vorbei am Café Figaro, die 6th Avenue hoch, gefolgt von drei Taxis mit Trauergästen. Längst vergessene Zeilen würden mir einfallen während der Fahrt: »… und mit gewandter Schnelle eilt es durch Anger, Feld und Busch, zur Kirche, zur Kapelle ….«, wo ich ausgeladen werde, aufgebahrt, runtergelassen ins Grab, im selben Moment wieder auferstehe von den Toten und mich freue, meinen Tod selbst erlebt zu haben. »Warum wünscht Du dir gerade das zum Geburtstag?«, fragte Heike. »Weil dann ein für alle Mal klar ist, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, und weil ich Euch dann erzählen könnte, wie das Leben nach dem Tod ist; dass es da zum Beispiel verbeulte Taxis gibt und Straßen mit Schlaglöchern, in denen die Autos verschwinden und ausgeleierte Eckkneipensitzpolsterspiralen und Aluminiumfolienluftballons und jemanden, der dir nachruft ›I like your tie‹ und Männer, die genüsslich Candy Pants schlecken und dabei an ihre Gesundheit denken und abends eine Pina Colada im One Fifth bestellen. Ich würde gern die Zeitungskolumne ›Notizen aus dem Leben nach dem Tod‹ schreiben. Ich würde die Leser täglich informieren, wie das Wetter hier ist und die Luftfeuchtigkeit, und wie es mir geht, und was ich den Tag über tue.«

Heike sagte, sie fürchte, dass ich auf dem Weg zum Friedhof sterbe. Wolf erwiderte, meine Idee sei nicht so neu; ich wäre nicht der erste, der so was gemacht hätte. Ich sagte, das könne schon sein, aber ich hätte es noch nie gemacht und würde es gern mal erleben.

Mein Tod in New York fand nicht statt. Aus Zeitgründen. Ich hätte erst eine Woche nach meinem Geburtstag sterben können. – Man sollte sich also früh genug entschließen. Die Todesanzeige auf der Titelseite der New York Times vom 17.05.1978, »R. I. P. Michael Schirner. GGK will never forget. Don’t worry, we cancelled your reservation at Windows on the World«, erschien nicht. Die Times traute uns und sich nicht. Das Essen im World Trade Center »Windows on the World« fand nicht statt. Es gab dort keinen Tisch, der so groß gewesen wäre, dass alle Hinterbliebenen daran Platz gehabt hätten.

Wir trafen uns an jenem Abend in einem kleinen französischen Restaurant. Ich kriegte wunderbare Geburtstagsgeschenke. Hans schenkte mir ein schwarzes Album mit silbernem Rand. Darin hatte er alle Beileidskarten eingeklebt, die er in New York finden konnte. Eine mit goldgelbem Sonnenuntergang und Pusteblume und den Worten:

He is just away. You cannot say, you must not say That he is dead. He is just away! With a cheery smile and a wave of the hand He has wandered into an unknown land And left us dreaming how very fair His needs must be, since he lingers there; So think of him faring on, as dear In the love of There as the love of Here, Think of him still as the same, and say He is not dead, he ist just away.

James Whitcomb Riley

Hans Peter Weiß schenkte mir schwarzes Briefpapier. In dieses war geprägt:

M. S. 16.5.1941–16.5.1978.

Wolf schenkte mir einen Bildband mit schönen Fotos. Eins mit einer rüstigen 100-Jährigen und der Zeile »Catherine Deneuve for Chanel!«. Eins mit einem Hutzelweibchen und der Zeile »Only Elizabeth Arden can call a body moisturizer Visible Difference«. Das Buch hat den Titel »Advertising in the Nineties«. Den Klappentext hatte Wolf mit der Hand geschrieben:

»In the late eighties, after Michael Schirner had carried advertising almost to the point of no return, a general halt was ordered. Both, the industry and their agencies were given a 10years break to reconsider what they were doing. During this decade, the Quiet Nineties, no new material was allowed. Ads had to use the basic words & lines, and the same models, they had featured in three quarters of the century. To everybody’s surprise, this freeze worked as well as all the innovations of earlier ages; a great many agencies could be closed; the media commission went down to 5%; and the 10% that saved pulled the whole industry out of the red. Unfortunately, Michael Schirner did not live to see this.«

 

Beitrag aus Michael Schirner, Werbung ist Kunst, mit einer Einführung von Hans Ulrich Reck und einem Titelbild von Albert Oehlen, Klinkhardt & Biermann, München 1988

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