LYRICS

Michael Schirner 1978

Auf der Hülle der Rolling-Stone-Platte »Sticky Fingers« ist die Hose von Mick Jagger abgebildet. Am Hosenlatz entlang ist ein Reißverschluss ins Cover eingeklebt. Vom oberen Rand der Plattenhülle, entlang der Gürtelschnalle, bis dahin, wo der Reißverschluss anfängt, verläuft eine Stanznaht, die sich durch leichten Druck öffnen lässt.

1. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen. Ich sehe etwas Fleischfarbenes. Ich denke, das muss Mick Jagger sein.

2. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen. Ich sehe etwas Weißes. Ich denke, das muss Mick Jagger sein.

3. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen. Ich sehe etwas Weißes. Ich denke, so ein Reißverschluss ist ein gutes Mittel, Erkenntnisse zu gewinnen. Je weiter man ihn öffnet, desto mehr kommt raus.

4. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe etwas Weißes. Ich denke, da sitz’ ich nun, tief in Kulturbetrachtung versunken, die linke Hand stützt den Kopf, die rechte hält Mick Jaggers Zipper. – Die Kulturgegenstände sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.

5. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe etwas Weißes. Ich denke: Früher waren es Malerei, Skulptur, Architektur, die kulturell was bedeuteten. Heute findet die Kultur in der Werbung, in der Mode, im Kino statt. Damals war Kultur Hochkultur. Sie war Sache der Oberschicht und der oberen Mittelschicht. Die Kultur von heute ist Subkultur, Alltagskultur, Massenkultur. Den Übergang von Hochkultur zu Subkultur hat uns die Pop Art beschert. Sie hat die hochkulturellen Techniken, z. B. die der bildenden Kunst, auf die Massenkultur angewandt. Sie hat z. B. aus Werbung und Comics Gemälde gemacht. Wäre die Popkultur nicht, wären Schallplattenhüllen heute nichts als Schallplattenhüllen.

6. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe etwas Weißes. Ich denke: Gestern waren es die Coca-Cola-Flaschen- Gemälde, heute sind es die Schallplattenhüllen, morgen werden es sämtliche Äußerungen des alltäglichen Lebens sein, die wir mit den Techniken der Kunst bearbeiten.

7. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe etwas Weißes. Ich denke, das könnte ein Auszug aus einem Kunstkatalog der nächsten Jahre sein: desodorieren, rasieren, frisieren, essen, trinken, gehen, fahren, kaufen, entscheiden, hören, zustimmen, lehren, nichts tun, spielen, träumen, lachen, rechnen, lieben.

8. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe etwas Weißes. Ich denke, es gibt Kunst-Künstler. Das sind die guten alten Pinselschwinger. Es gibt Nicht-Künstler. Das sind alle, die Kunst in das Leben vermitteln: Popsänger, Cover-Designer, Fotografen, Schreiber, Werber etc. – Wenn wir munter weiterarbeiten und nicht nachlassen, wird es irgendwann keine Kunst-Künstler mehr geben. Und es wird irgendwann auch keine Nicht-Künstler mehr geben. Alle werden die tägliche Vermittlungsarbeit betreiben.

9. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe Andy Warhols Namenszug auf dem Slip. Ich denke, das muss ein Cover von Andy Warhol sein.

10. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe Andy Warhols Namenszug auf dem Slip. Ich denke, der gute alte Andy fand auch langsam Gefallen daran, keine Kunst zu machen. Früher hat er noch die Werbung genommen und seine Kunst daraus gemacht, hat die Campbell-Suppendosen abgemalt und gerahmt. Jetzt benutzt er seine Kunst dazu, Werbung zu machen. Jetzt macht er Schallplatten-Cover wie diese hier. Und um die ästhetische Praxis ganz in gesellschaftliche Praxis zu überführen, machte er eine Restaurantkette auf.

11. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe Andy Warhols Namenszug auf dem Slip. Ich denke, das muss ein Bild für die Götter gewesen sein: Andy Warhol kniet vor Mick Jagger, die Kamera dicht an dessen Hosenlatz.

12. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe Andy Warhols Namenszug auf dem Slip. Ich denke, dieses Bild hat auch seinen Reiz: Opa Warhol kniet hinter Onkel Jagger, die Kamera auf dessen Hinterteil gerichtet, um das Foto zu schießen, das jetzt auf der Rückseite der Plattenhülle ist.

13. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe Andy Warhols Namenszug auf dem Slip. Ich denke, als Andy Warhol das dritte Mal niederkniete, um die Optik auf Micks Slip zu richten, hat seine Kamera ein wenig gezittert. – Zumindest würde das die Unschärfe und die miese Qualität des Unterhosenfotos erklären.

14. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe Andy Warhols Namenszug auf dem Slip. Ich denke, Mick Jagger hat an sich runtergeguckt auf Andy Warhol, der vor ihm kniete und dabei gedacht: Da kniet er nun vor mir mit seinen weißen Haaren. Ich bin doch der Größte.

15. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe Andy Warhols Namenszug auf dem Slip. Ich denke, das ist vielleicht gar nicht die Hose von Mick Jagger. Das ist vielleicht die Hose von Andy Warhol. Das ist vielleicht ein Foto, das Mick Jagger von Andy Warhol gemacht hat.

16. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe Andy Warhols Namenszug auf dem Slip. Ich denke, das ist vielleicht gar nicht die Hose von Mick Jagger. Das ist vielleicht die Hose von Keith Richard.

17. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe Andy Warhols Namenszug auf dem Slip. Ich denke, das ist vielleicht gar nicht die Hose von Mick Jagger. Das ist vielleicht jemand, der gerade in Andy Warhols Studio die Lichtleitung repariert hat.

18. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe unter Warhols Namenszug das Sätzchen: »This photograph may not be … etc.« Ich denke, das ist eine nette Nachricht des Produzenten an seine Rezipienten, eine Art Gebrauchsanweisung, ein Hinweis zum Verständnis des Ganzen, so etwas wie eine Verhaltensanleitung.

19. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe unter Warhols Namenszug das Sätzchen: »This photograph may not be … etc.« Ich denke, mit dem Cover hat die Firma Warhol-Jagger der Schar der Popmusik-Rezipienten ein großartiges Kommunikationsinstrument geschenkt. Es erlaubt dem Publikum, den Star zu sehen (Cover), zu hören (Platte) und ihn außerdem zu berühren (Reißverschluss). Es gibt jedem Fan die Möglichkeit, mit dem Star ein kleines Techtelmechtel anzufangen. Das Cover wird zu einem Stück vom Star. Der Fan wird zum Groupie, das jederzeit das Höschen vom Star öffnen darf.

20. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe unter Warhols Namenszug das Sätzchen: »This photograph may not be … etc.« Ich denke, das Gute an diesem Objekt ist, dass es dem Fan nicht vormogelt, er könne wirklich durch das Öffnen des Reißverschlusses mit dem Star in Verbindung treten. Im selben Moment, in dem er Mick Jaggers Reißverschluss öffnet, erkennt er, dass es nicht Mick Jaggers Reißverschluss ist und dass nicht viel mehr dahintersteckt als eine etwas blässliche Reproduktion.

21. Ich öffne den Reißverschluss von Mick Jagger ein bisschen mehr. Ich sehe unter Warhols Namenszug das Sätzchen: »This photograph may not be … etc.« Ich denke, so könnte man es vervollständigen: This photograph may not be a Warhol, a piece of art, a souvenir, a love object, a piece of advertising, a reproduction, a surprise, a piece of reality, a photograph.

 

Der Text, den Michael Schirner 1978 schrieb, wurde 1993 vom Musiker und Produzenten Mayo Thompson für den Artpop-Titel Buy me (Pictures). Buy me (Stones) übernommen.

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