MICHAEL SCHIRNER, PICTURES IN OUR MINDS

Messe Hamburg, 1985

Michael Schirner, Pictures in our Minds, Hamburg 1985, Exhibition Shot

Michael Schirner, Pictures in our Minds, Hamburg 1985, Exhibition Shot

EINE FOTOAUSSTELLUNG OHNE FOTOS

Der Intermedia-Kongress 1985, die Messe der neuen Medien in Hamburg, war der Anlass. Hier wollte das Magazin STERN ein Zeichen setzen und die Kraft und Überlegenheit des gedruckten Mediums exemplarisch demonstrieren. Für die Demonstration des Printmediums galt es, ein Ausstellungskonzept zu finden, eine Form der Präsentation für die stärksten Bilder, die je in Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht wurden. Uns war klar, dass es nicht damit getan war, die bekannten journalistischen Fotos in einer Ausstellung nebeneinander zu hängen. Wir wollten die Technik der Kommunikation von Imaginärem in der Kunst auf die Spitze treiben, indem wir uns weit entfernten von Referenzen auf Außenliegendes, uns stattdessen auf das Innere des Betrachters, seine Fantasie- und Gedankenarbeit beziehen. Wir machten den Betrachter zu seinem Medium: Die Hardware ist sein Gehirn, die Software seine Imagination, auf seiner Festplatte sind alle Bilder, die in seinem Kopf gespeichert sind. Deshalb gaben wir dem Projekt den Titel Pictures in our Minds. Die Besucher der legendären Ausstellung Pictures in our Minds betraten eine Fotoausstellung ohne Fotos. Statt der Bilder sahen sie schwarze Tafeln, auf denen in weißer Schrift die Beschreibungen bekannter Fotos zu lesen sind. Die Texte auf den Tafeln des imaginären Museums ließen die Bilder in den Köpfen der Betrachter entstehen. Hier war nur noch die Imagination des Betrachters gefordert, das Schwarze der Tafeln aufzuhellen. Das ist Kunst der Zukunft: Das Bild muss es aushalten können, ganz in der Imagination des Betrachter zu verschwinden. Der Text, und vor allem der Autor, müssen dasselbe aushalten können.

Michael Schirner, The footprint of the first man on the moon, 1985 – 2013, Siebdruck auf Leinwand

Michael Schirner, Pictures in our Minds, The foot-print of the first man on the moon, 1985, Fine Art Print

Lassen Sie uns einen Blick in die Ausstellung werfen. Sie sehen eine 120 x 120 cm große schwarze Tafel. Sie lesen den Text darauf: „The footprint of the first man on the moon“. Der Fußabdruck des ersten Menschen auf dem Mond. Sie schließen die Augen. Vor Ihrem inneren Auge tauchen die Bilder der ersten Mondlandung auf: Ein Astronaut. Die Mondoberfläche. Der Boden im Close up. Der Fußabdruck des moonboots. Sie sind Schöpfer des Bildes in Ihrem Kopf. Es ist Ihr Bild. Sie sind der Fotograph. Es ist Ihr Fußabdruck. Sie sind der erste Mensch auf dem Mond.

Michael Schirner, Crowds on the Berlin Wall, 1985 – 2013, Siebdruck auf Leinwand

Michael Schirner, Pictures in our Minds, Crowds on the Berlin Wall, 1985, Fine Art Print

Sie lesen: „Crowds on the Berlin wall“. Sie machen aus dem Bild an der Wand ein Bild in Ihrem Kopf. Das Bild der Menge auf der Berliner Mauer ist Ihr Werk. Ihr Bild ist stärker als die Fotovorlage, weil es seit dem Fall der Mauer ein Teil von Ihnen ist. Alle Bilder in Ihrem Kopf sind stärker, intensiver, bewegender als die Bildvorlagen in Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen, Kino, Museen etc. weil es Ihre Bilder sind. Ihr geistiges Eigentum. Sie sind der Schöpfer Ihrer Bilder.

Michael Schirner, Tortured Iraqi prisoner with hood, 1985 – 2013, Siebdruck auf Leinwand

Michael Schirner, Pictures in our Minds, Tortured Iraqi prisoner with hood, 1985, Fine Art Print

Der gefolterte Gefangene Iraker mit Kapuze. Wenn Sie das Bild nicht gleich vor Augen haben, weil es in Ihrem kollektiven Gedächtnis schlummert, wecken Sie es nicht, lassen Sie es schlummern. Sie wissen, es ist auf Ihrer Festplatte im Ordner mit Bergen nackter, kotbeschmierter gefolterter, gefangener Iraker. Da ist es: der Kapuzenmann mit Mantel und ausgebreiteten Armen in Abu Ghraib… die Stromkabel an seinen Händen.

Michael Schirner, Marilyn Monroe poised over a subway air-shaft, 1985 – 2013, Siebdruck auf Leinwand

Michael Schirner, Pictures in our Minds, Marilyn Monroe poised over a subway air-shaft, 1985, Fine Art Print

Marilyn Monroe auf Subway-Luftschacht. In Ihrem Kopf läuft ein Film ab. Sie sind Regisseur- und Protagonistin. Ihr weißer Rock fliegt höher und höher; sie haben Mühe, ihn mit den Händen festzuhalten. Der Filmtitel? Richtig: Das verflixte 7. Jahr. Nur an den Namen des Herrn am linken Bildrand können Sie sich nicht mehr erinnern. Oder doch?

Michael Schirner, Naked Vietnamese child fleeding after a napalm attack, 1985 – 2013, Siebdruck auf Leinwand

Michael Schirner, Pictures in our Minds, Naked Vietnamese child fleeding after a napalm attack, 1985, Fine Art Print

Das Bild des nackten vietnamesischen Kindes, das nach einem Napalm-Angriff schreiend auf der Straße von Trang Bang flieht. Ihr Bild sorgte dafür, dass der Vietnamkrieg beendet wurde. Das Bild hat die Welt zu verändern.

Michael Schirner, Wreckage of the World Trade Center, 1985 – 2013, Siebdruck auf Leinwand

Michael Schirner, Pictures in our Minds, Wreckage of the World Trade Center, 1985, Fine Art Print

Die Trümmer des World Trade Center. Das Bild führte dazu, dass der Krieg gegen den Terrorismus begann. Das Bild vom erschossenen Bin Laden fehlt in Ihrer Sammlung.

Michael Schirner, Albert Einstein sticking his tongue out, 1985 – 2013, Siebdruck auf Leinwand

Michael Schirner, Pictures in our Minds, Albert Einstein sticking his tongue out, 1985, Fine Art Print

Das Tolle an den Bildern in Ihrem Kopf – im Gegensatz zu normalen Kunstwerken, von denen es immer mehr gibt und die immer mehr Platz wegnehmen – ist, dass bei Ihren Bildern im Kopf die Kosten für Lager-, Transport- und Versicherung gleich Null sind. Das heißt, Ihre Bilder sind äußerst umweltfreundliche und platzsparende Kunst. Vielleicht streckt Albert Einstein deshalb allen Sammlern von analogen Kunstwerken die Zunge raus.

Michael Schirner, Portrait of Che Guevara, 1985 – 2013, Siebdruck auf Leinwand

Michael Schirner, Pictures in our Minds, Portrait of Che Guevara, 1985, Fine Art Print

Das Portrait von Che Guevara. Es ist Ihr Portrait. Sie sind der Che Guevara der Kunst der Zukunft. Sie sind Sammler, Kurator, Künstler und Betrachter in einer Person. Mit dem imaginären Museum der Bilder in Ihrem Kopf sind Sie im Besitz der größten und eindrucksvollsten Sammlung, die es gibt. Und das Tolle: Alle Werke sind das Ergebnis Ihrer Fantasie- und Gedankenarbeit. Sie sind Schöpfer der faszinierendsten Bilder der Welt.

DER KREATIVE IKONOKLASMUS

Hans Ulrich Reck

Dass Bilder erst wirklich ’sind‘, nämlich lebendig wirken, in einer aktuellen Wahrnehmung, gilt schlechterdings für alle Bilder. Besonders aber für diejenige Art von Bildern, die man als artifizielle Konstrukte bezeichnen kann. Bilder also, die nichts anderes sein wollen als ein Anstoß, ein Anlass oder Ausgangspunkt solcher Wahrnehmung.

Es handelt sich hier wesentlich um eine Errungenschaft der radikalen Moderne, die an die Stelle ritueller und auratischer, religiöser und sakraler Bilder die ästhetische Reflektion gesetzt hat. Diese aber keineswegs nur abstrakt, als philosophische Kategorie, sondern in poetischer Gestalt.

Seit zum Beispiel Kasimir Malewitsch bedeutet, Bilder zu sehen, sich zur eigenen Wahrnehmung in ein aktives Verhältnis zu setzen. Bedeutet, das Sehen zu sehen und die Wahrnehmung an den Mechanismen der Wirkung von Bildern zu betrachten.

Das Gefüge in der Verbindung zwischen Autor, Werk, Betrachter wird komplizierter. Die Bilder verlieren ihre bisherige Autorität und gewinnen neue Kraft. Sie verwandeln sich von Repräsentanten eines Sinns zu ‚Kraftwerken‘ einer Erfahrung. Es verschiebt sich im Zuge der modernen Poetik das Werk und die Autorität seines Erzeugers auf den Gang der Erfahrungen auf Seiten des Betrachters.

Die Bedeutung der Bilder ist ihr Gebrauch in der Gesellschaft. So könnte man bildtheoretisch Wittgensteins Auffassung vom Gebrauch der Sprache umschreiben. Auch für die Bilder gilt, dass sie nicht in ein einziges Sprachspiel aufgelöst werden können, sondern dass stets viele und diverse Formen und Weisen des Visuellen gegeben sind. Schirners Werk legt folgende Diagnose nahe: Die schöpferischen Leistungen der Rezipienten müssen neu und angemessen auch in den Konsequenzen der Nutzung der Bilder im öffentlichen Gebrauch bewertet werden. Die Bilder sind öffentliche Medien geworden. Sie sind konsequent in ihrer öffentlichtkeitsmodellierenden Kraft zu erkennen und zu diskutieren. Künstler, die durch Bekanntheit ihrer Werke, also genuine Bild- und Werkerfindungen, in den Zirkulationsbereich strikter öffentlicher Bilder hineingehören, sind eben solche, die den Bestand der lebensweltlichen Kommunikation in ihre Bildfindungen einbeziehen. Das gilt für Picassos ‚Guernica‘ ebenso wie für die Werke der Pop Art. Und eben auch für Michael Schirner. Man kann die Sachlage so zusammenfassen: Das 20. Jahrhundert hat den Betrachter als produktive, ja schöpferische Instanz in das Werk selber integriert. Das Werk verschiebt sich auf den Prozess, der Anspruch des Autors auf die Wirkweisen des Mediums.

Kreieren bedeutet nun vorrangig: Inszenieren, Arrangieren, Edieren, immer wieder neu Thematisieren. Die Kräfte haben sich verschoben, das Dispositiv verwandelt.

Die privilegierte, ontologisch starre Position eines hierarchisch und autoritativ allem Prozessualen enthobenen, genuinen und originären Erfinders als Figur ‚des‘ Künstlers ist überholt. ‚Kunst ohne Werk‘, ‚Kunst ohne Künstler‘ sind entscheidende Stichworte der Beschreibung und Errungenschaften der Künste im 20. Jahrhundert.

Auszug des Beitrags von Hans Ulrich Reck, Professor der Kunstgeschichte und Medientheorie an der Medienkunsthochschule in Köln, zu Pictures in our Minds von Michael Schirner in internationalen Fotozeitschrift foam #31ref. Sommer 2012.

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